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Der ewige Polnische Abgang und warum wir ihn lieben

Von Liliane Strohfelder

Und schon wieder hab ich’s getan. Plötzlich von einer Panikwelle ergriffen, die mich aus dem Club hinausbugsierte, vorbei an einer verschwimmenden Masse lallender, lachender, labernder Menschen, hinaus auf die Straße, vorbei an dem schönen Reiterdenkmal mit dem abbröckelnden Goldüberguss, durch die unmotiviert herumstehende Baumgruppe, hinein in diese schäbige, kleine Kaschemme. Hier sitze ich nun, denke „einmal Abschied süß-sauer, bitte“ und bestelle Glasnudeln mit Tofu.

Irgendwo zwischen Logorrhoe und Hygienehysterie: der ewige Polnische

Ein undifferenziertes Geschmacksbouquet aus Hühnchen-, Schweiß,- und Frittierfettgerüchen verätzt hier die letzten Geschmacksknospen, die mein eh schon spärlich ausgeprägter Gaumen je besessen hat und das triste Ambiente dieses abgefuckten Imbisses betäubt einen wirkungsvoller als fünf Maß Bier.

Werden andere von krankhaftem Sprechdurchfall, konstantem Touch-Bedürfnis oder Hygienehysterie geplagt, ist es bei mir meine überaus ausgeprägte Vorliebe, den „Polnischen“ zu machen. Ich verschwinde bevorzugt unauffällig, schnell, leise ohne mich von irgendwem zu verabschieden. Erstaunlicherweise „gefällt“ mein Problem Facebook zufolge mindestens 98.335 Menschen. Und eigentlich hat diese Verabschiedungsvariante überhaupt keine Berechtigung, ausführlicher unter die Lupe genommen zu werden, da der „Polnische“ wohl eher eine politisch unkorrekte Bezeichnung eines persönlichen Ticks beschreibt, als dass er auf ein tiefergehendes, gesellschaftsrelevantes Problem verweist. Oder? Vielleicht habe ich aber auch nur mal wieder das Bedürfnis, mich möglichst schnell vor einer möglichen Erklärung aus dem Staub zu machen. Also schauen wir zumindest mal ein bisschen genauer hin.

Verabschiedungsgesten sind ein wesentlicher Bestandteil unseres kulturellen Repertoires

Festhalten kann man auf jeden Fall, dass Begrüßungs- und Abschiedsgesten immer ein festes Repertoire innerhalb einer kulturell kodierten Brauchtumstradition bilden. Das spiegelt sich auch in vielen Werken aus Literatur und Film, die zum Teil aus einer einzigen pathetischen Abschiedsinszenierung bestehen: Orpheus und Eurydike, Titanic, Madame Bovary, Revolutionary Road, Romeo und Julia, um nur die prominenteren einer schier unendlichen Liste zu nennen.

Dass wir dem Nicht-Abschied schon eine Bezeichnung gegeben haben, die allgemein anerkannt ist, lässt darauf schließen, dass sich der Abgang ohne Tschüssikowski-Bussi-Bussi endgültig in unserem Brauchtumskanon etabliert hat.

Der unglückliche Herr K.

Und das ist vielleicht gar nicht so in Ordnung wie wir meinen. Denn jeder Abschied, vor dem wir uns drücken, ist auch ein Abschluss, den wir nicht wahrhaben wollen. Wo etwas kein Ende findet, ist aber auch kein Anfang möglich. Die Konsequenz aus so einer Lebenseinstellung hat wohl Bertolt Brecht in seinen „Geschichten von Herrn Keuner“ am poetischsten ausgedrückt: „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.’ ‚Oh!’, sagte Herr K. und erbleichte.“

Wir sollten mal lieber schnell lernen zu akzeptieren, dass manche (die meisten… alle?!) Dinge einfach zu Ende gehen, und sei es „nur“ ein unvergesslicher Abend. Wenn man den aber auch noch in den nächsten Tag hineinziehen will, bekommt er unweigerlich einen fahlen, abgestandenen Beigeschmack. Ein bisschen mehr Mut zum Ciao-Sagen, ein bisschen weniger Angst vorm Abschließen und ein bisschen weniger Bequemlichkeit und Feigheit wären da vielleicht ganz hilfreich.

Das Nationen-Bashing bei der Namensfindung des Nicht-Verabschiedungs-Syndroms betreiben übrigens nicht nur die Deutschen: In Polen und Frankreich macht man einen englischen Abgang und in England sagt mit hämischem Blick auf seine Nachbarn: „I take a French leave.“ Tschüss sagen gefällt mir nach wie vor nicht wirklich, stattdessen werde ich mich von meinen Freunden ab jetzt aber immer mit einem Auf-Wiedersehen verabschieden. Auf Wiedersehen.

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Bildquelle: Andy Beales unter CC by 2.0