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Am Ziel mit Anfang 20: Was soll denn da noch kommen?

Bordeaux am 02. Juli: Ein Stadium voller Blut und Endorphine. Zwei Mannschaften sind völlig am Ende, das Publikum oszilliert irgendwo zwischen Nervosität und Herzinfarkt. Elfmeterschießen Deutschland – Italien,  eine Qual. Schweini verschießt, Müller auch. Dann läuft ein schmächtiger Junge über den Platz, würde man ihn nicht kennen, würde man stutzen, ist das Max aus dem Mathekurs? Er schießt, verwandelt. Joshua Kimmich hat einen Elfmeter gegen Italien geschossen und prägt nicht nur deshalb die Europameisterschaft in Frankreich mit. Er ist 21 Jahre alt. Sein Marktwert wird heiß diskutiert, man schätzt aktuell zwischen 15 und 20 Millionen. Mein Marktwert beläuft sich wahrscheinlich auf den Preis einer mittelreifen Avocado.

 

Nach dem Aufstieg freier Fall?

 

Wenn ich zurzeit doch mal dazu kommen sollte, den Fernseher einzuschalten, muss ich teilweise 19 oder 20-jährigen dabei zusehen, wie sie die EM-Tore schießen. Da muss man sich dann schon mal fragen, was man selbst bisher so geschafft hat. Erfolgreicher Grundschulabschluss? Abi? Ach, in der fünften Klasse den Lesewettbewerb gewonnen? Na fein.

Aber bevor der innere Schweinehund wieder raunen kann, „Na und, dafür hast du immerhin ein Sozialleben!“, kann mal sich vielleicht auch mal ganz ohne Neid und Hintergedanken fragen, ob der Traum vom schnellen Erfolg in unserem Alter wirklich so glänzend gold ist, wie es scheint. Wenn man mit Anfang 20 schon seinen Lebenstraum verwirklicht hat, was kann denn da noch kommen? Der nächste? Hechelt man nicht fortan das ganze Leben nach etwas, das am Ende doch nie gegen diesen ersten Erfolg ankommen kann?

Klar, die Wochen direkt nach so einem Sieg sind bestimmt super: Man wird gefeiert, feiert sich selbst und hat sogar allen Grund dazu. Vom überwältigenden Moment auf dem Siegertreppchen mal ganz abgesehen. Aber vielleicht sind solche Erfolge auch wie Bergsteigen: oben angekommen fühlt man sich wie der König der Welt, schließlich hat man lange darauf hingearbeitet. Also bleibt man erstmal gemütlich sitzen und genießt die Aussicht. Aber irgendwann ziehen eben auch Wolken übers Panorama, die Hände werden kalt, und der Kaiserschmarrn schmeckt irgendwie krümelig.

Bergsteiger suchen sich dann einfach den nächsthöheren Berg, setzen sich neue Ziele. Aber was, wenn man mit dem Mount Everest angefangen hat? Dann kriegt man vom Wendelstein auch nicht mehr die großen Glücksgefühle.

 

Was kann denn dann noch kommen?

 

Bei Google findet man ein riesiges Quantum an Ratschlägen, wie man seine größten Träume am schnellsten verwirklichen kann. Wie man den heißersehnten Job bekommt, dass man alles schaffen kann, wenn man nur will, das übliche Amalgam aus Brigitte-Forumsdiskussionen und Weisheiten von Hobby- und Küchenpsychologen. Aber nirgends steht, was man macht, wenn man es dann tatsächlich geschafft hat – und sich irgendwann leer fühlt. Weil man es sich im Erfolg gemütlich gemacht hat wie eine Ratte im Abflussrohr und das Gefühl hat, geiler wird’s eh nicht. Man hat alles geschafft, was man erreichen wollte, und jetzt gibt es nur noch eine Richtung: bergab. Während die meisten Google-Tipps auf die Sinnsuche während der midlife crisis anspielen, ist es ja etwas ganz anderes, wenn man sein ganzes Leben noch vor sich, aber trotzdem schon geschafft hat, was man immer erreichen wollte. Und das sind oft sportliche Erfolge wie Olympia oder Fußball-WM. Oder Fußball-EM. Schließlich haben die wenigsten mit Anfang 20 ihre Traumfamilie mit Hund und Eigenheim.

 

„Das Schlimmste, was einem Schriftsteller passieren kann, ist es, das perfekte Buch zu schreiben“

 

Ein kluger Mann hat mal gesagt, das Schlimmste, was einem Schriftsteller passieren kann, sei das perfekte Buch zu schreiben. Danach müsse er sich eigentlich selbst erschießen. Wahrscheinlich hatte er Recht. Was ist es denn, was uns immer dazu antreibt, dranzubleiben? Eher nicht der Gedanke, „das Beste hast du eh schon geschafft, die Medaille hängt über deinem Spiegel, aber so zum Spaß kannste ja mal weitermachen, mal sehen was rumkommt“. Sondern der Traum, irgendwann krieg ich dich noch, verdammtes Gold. Ich bin nicht unzufrieden mit meinem Leben, aber der Grund, wieso ich jeden Morgen aufstehe, ist doch, dass ich immer denke, es geht bestimmt noch besser, ich kann meine Ziele irgendwann erreichen (und halt weil der Wecker klingelt und die Pflicht ruft).

Natürlich jagen Sportler auch immer nach neuen Herausforderungen. Aber wenn man ganz früh den Welterfolg gelandet hat, werden andere Siege immer im Schatten der ersten Sensation stehen. Das Timing war perfekt, als der Bayern-Trainer Jupp Heynckes vor ein paar Jahren mit seiner Mannschaft noch das Triple holte, kurz bevor er sich in den Ruhestand verabschiedete. „Ich hätte keinen besseren Zeitpunkt erwischen können, meine Karriere zu beenden. Besser ging’s nicht!“, sagt er später. Danach hätte nichts Besseres mehr kommen können – und wenn’s am schönsten ist, soll man ja bekanntlich aufhören.

Ich glaube, ich werde mir jetzt ganz entspannt das Halbfinale in Marseille anschauen und mich zur Abwechslung mal darüber freuen, dass ich jung UND unerfolgreich bin. Und noch groß träumen kann.

 

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Bild: Franca Gimenez unter cc by-nd 2.0