Paris im Herbst

Der 13. November war ein Freitag

Ich habe das letzte halbe Jahr in Paris gelebt. Eine Woche nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo fand ich Mitte Januar eine Stadt vor, die sich aufgeräumt hatte, auch wenn noch einige Scherben herumlagen; irgendwie gewöhnte man sich daran, dass man vor jedem Betreten der Sorbonne IV seine Tasche durchsehen lassen musste, als hätte man eine Bombe dabei und nicht nur eine Taschenbuchausgabe von Charles Baudelaire und eine zerknitterte Mandarine und man gewöhnte sich auch daran, dass bei einem Spaziergang durch den kleinen Park hinter Notre-Dame Polizisten vor einem flanierten, denen Schlagstöcke vom Gürtel baumelten, das Maschinengewehr wie ein kränkelndes Baby im Arm. Man gewöhnte sich, weil es ja Paris war und nicht Krieg, und weil es ja Erasmus war und es gab noch so viel zu trinken.

Der 13. November 2015 war ein Freitag. An Freitagabenden war ich, wie unter der Woche, meistens in irgendeiner Bar zu finden, einen Sauvignon blanc vor mir oder ein kühles Heineken. Im zehnten und elften Arrondissement, um die Rue Oberkampf und die Bastille, sind die Läden voll und die Drinks (verhältnismäßig) billig. Hier zieht man als junger Mensch regelmäßig seine ausschweifenden Kreise. Wäre ich am Freitag in Paris gewesen, wie ich mir das sonst jeden Tag wünsche, wäre es ziemlich wahrscheinlich gewesen, dass ich mich in genau einem dieser Kreise aufgehalten hätte. Stattdessen waren meine Freunde dort. Sie arbeiteten in Restaurants, ein paar Minuten von der Konzerthalle Bataclan entfernt, oder waren was trinken, einer war zuhause, er wohnt genau dort, unter dem Fenster die Leichen. Einige waren in meiner Lieblingsbar nahe der République, wie fast jeden Abend, doch dieses Mal waren sie dort zwangsweise verbarrikadiert, evakuiert, öffneten die Tür nur für vorbeilaufende, fliehende Menschen. Allen meinen Bekannten geht es gut, und mir in München sowieso, doch der Schock reißt ein tiefes Loch ein. Eigentlich sollte es nicht so sein, aber ich glaube, viele wissen, was ich meine: es fühlt sich letztlich völlig anders an, fremde Zeugenberichte aus den Nachrichten zu hören – oder zu lesen, wie einem jemand persönlich schreibt, was er gesehen hat. Es fühlt sich näher an, und das kommt es ja auch.

Am Tag darauf sitze ich in der Bibliothek und schreibe darüber, warum ein französischer Historiker des 19. Jahrhunderts Blut als Blume des Lebens sieht und als Ursprung der Geschichte und alles, was ich denken kann, ist: Meine Freunde und tausend andere haben dieses Blut gesehen. Es klebte an den Händen derer, die gestern Schutz suchten in den Bars und Restaurants, in diesen Orten, in denen wir eigentlich immer nur vergessen und nie erinnert werden wollen.

Aber wir müssen uns daran erinnern, immer wieder und immer wieder, wir dürfen nie vergessen, dass Frieden kein Naturzustand ist. Nicht mehr, nicht in dieser perversen Welt. Wenn wir die Flüchtlingskrise nicht verstehen, dann auch, weil wir wahrscheinlich nie ganz verstehen können, wovor die Menschen fliehen. Was sie erlebt haben und wie sich das anfühlt. Gestern haben wir es erlebt und selbst da meist nur über mindestens eine Ecke. Wir mit unserem warmen Haus und laufendem Wasser und den sicheren Straßen. Unsere Welt scheint wie aus den Angeln gehoben, oberste Katastrophenstufe, Ausnahmezustand, Schockstarre.

Es ist für die meisten von uns neu und grausam, dieses Warten, dass sich ein wichtiger Mensch meldet, dieses gehetzte Verfolgen der Nachrichten, nicht aus Interesse oder abstrakter Misanthropie, sondern aus akuter Angst, es ist neu, dieses Was-wäre-wenn, das nur noch einen Konjunktiv entfernt scheint. Und wenn dann die ganzen Verwirrungen von IS und bin Laden wieder hochkochen, fragt man sich plötzlich: Ist es so, das Leben der Flüchtlinge? Ist das, was für uns drei Tage Nationaltrauer sind, ein ganz normaler Freitag in Syrien? Ist diese neue Welt des Terrors und der Angst längst die einzige, die sie kennen?

Es ist unglaublich schwierig, jetzt noch den Überblick zu behalten über Gut und Böse, über geschockt und geheuchelt, über Attentäter und Flüchtling, über Eindringling und Vertriebener. Es ist schwierig, weder zu naiv zu sein noch die Falschen vorschnell zu verurteilen, es ist schwierig, nicht blind zu werden oder sprachlos, vor Hass oder vor Liebe, in diesen dunklen Tagen. Aber wir dürfen nicht aufhören, es zu versuchen.

Foto: Iseult Grandjean