Mann schwarz weiß Traurig

Hunger auf Desaster: Warum wir das Drama lieben

Eigentlich läuft alles großartig. Semesterferien, endlich ein bisschen Frühlingssonne, das neue Gehalt ist auch schon da und nicht einmal Hunger hast du. Doch dann bemerkst du, dass dein Freund, deine Mitbewohnerin oder du selbst (und du weißt es bloß nicht mehr) deinen Lieblingsjoghurt weggefuttert haben. Und vorbei ist es mit der Ruhe im Paradies: es wird gestritten, geweint, mit Tellern geworfen. Du bist der Meinung, die ganze Welt hat sich kollektiv gegen dich verschworen und sowieso hat die Freundschaft oder Beziehung keinen Sinn, wenn die andere Person so egoistisch, amoralisch, ganovenhaft ist.

Doch ganz tief in der drin weißt du natürlich, dass es niemals um den Joghurt ging – du hattest einfach Lust auf Streit. Manche Menschen halten es nicht lange im Paradies aus und da muss eben ein bisschen Drama her. Ja, you are the creator of your own catastrophy, baby.

Liebst du mich? Liebst du mich wirklich?

Wir alle kennen das Sprichwort „Was sich liebt, das neckt sich“. Doch du übertreibst es gerne, lässt den Geduldsfaden deiner Herzensmenschen absichtlich-unabsichtlich reißen, streitest über Lappalien und das Verhältnis Nörgeleien-Komplimente ist längst gekippt. All diese kleinen, zerstörerischen Gemeinheiten brauchst du, um deine Grenzen auszutesten. Machen Katzenbabys auch: die beißen solange in Menschenhände, bis selbst der größte Tierliebhaber mit schmerzverzogenem Gesicht die Hand wegzieht. Nur bist du eben kein Katzenbaby, das erst herausfinden muss, wie man mit Menschen umgeht. Eigentlich hast du sogar eine sehr gute Kinderstube genossen.

Was du brauchst, ist viel etwas ganz anderes. Denn über deine Zickereien, Zankerein und Zumutungen meinst du, du könntest herausfinden, ob der oder die andere dich auch noch liebt, wenn du dich wie ein Arschloch aufführst. Das Problem ist nur, dass du wahrscheinlich solange in deine glückliche Beziehungsblase pickst, bis die zerplatzt. Denn die Wurzel des Problems liegt nicht in dem Jetzt, sondern an früheren Erfahrungen. Ein netter Nebeneffekt ist, dass wenn du am Ende wirklich verlassen wirst, du es eh schon wusstest. Selbstzerstörung in seiner reinsten Form. Doch natürlich besteht auch die kleine Hoffnung, dass sich dieses Austesten ändert, sobald du endlich gecheckt hast, wie viel der andere dich trotz deiner Macken in sein Herz geschlossen hat.

Lachesism: noun, the hunger for disaster

Doch es kann natürlich auch sein, dass du Langeweile grundsätzlich fatal findest. Sollte Lethargie dein persönliches Worst Case Scenario sein, bist du sicherlich nicht alleine damit. Neulich fragte ich einen Kollegen, was ihm am meisten Spaß bei der Arbeit bereite. Seine Antwort: „Krieg.“ Was er damit meinte? Er liebt es, wenn alles drunter und drüber geht, alle an mangelnder Zeit oder an Unvorhergesehenem verzweifeln und Sodom und Gomorrha herrschen – denn nur indem er Probleme löst, befriedigt er sein Bedürfnis nach Kontrolle. Und für das eigene Ego springt natürlich auch etwas heraus.

Seit 2009 erfindet der Grafiker John Koening Wörter für Emotionen, die in unserer Gesellschaft noch keine Bezeichnung haben und sammelt sie in seinem Dictionary of Obscure Sorrows. Eines davon ist Lachsism: The hunger for disaster. Das kann das Überleben eines Flugzeugabsturzes sein, die Sehnsucht danach, alles in Flammen zu verlieren, Naturkatastrophen. Es ist das Warten darauf, dass die Welt zugrunde geht, der Hunger nach Chaos. Ja, es ist schon seltsam, da versucht die Menschheit mit allen Mitteln die Natur zu beherrschen um sich dann doch zu wünschen, ihr hilflos ausgeliefert zu sein.

Erst durch Zerstörung, sehen wir, was uns wirklich etwas bedeutet

Mit Sicherheit ist der Wunsch nach Chaos nicht nur ein Bedürfnis unseres Zeitgeists. Immerhin ist die Apokalypse einer der ältesten menschlichen Phantasien – sonst hätte sie nicht so einen zentralen Platz in der Bibel bekommen. Aber in unserer Wohlstandsgesellschaft ist die Sehnsucht nach Destruktion nichts anderes als der Wunsch Leere zu füllen. Denn auch wenn wir immer unkompliziert und chillig tun, Minimal hören, Casual Sex haben und Romantik unterschätzen, so gibt es einen Teil in uns, der sich nach Mehr sehnt. Denn Katastrophen – emotionale wie physische – zwingen uns dazu, wieder zu priorisieren und einen Blicks fürs Wesentliche zu bekommen. Ja, erst wenn es heißt, alles oder nichts, glauben wir zu verstehen, was uns Nichts bedeutet, was Alles für uns ist. Doch warum sehen wir das nicht auch schon dann, wenn es uns so gut geht?

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Titelbild: jim jackson/Pexels unter CC0 Lizenz