Erinnerung-Internet-Medien

Wie das Internet unsere Erinnerungen hinfällig macht

Erinnerungen sind wichtig. Sehr wichtig sogar: Durch sie können wir zurück an schöne Orte reisen. Sie schenken uns vergangene angenehme Gefühle einfach noch einmal. Sie bauen Verbindungen zu anderen Menschen. Erinnerungen kann man teilen und weitergeben. Erinnerungen formen uns. Ohne Erinnerung leben wir nur im Hier und Jetzt – und wer will das schon? Umso schlimmer, dass eine Studie jetzt das belegt, was wir schon lange befürchtet haben: Das Internet lässt unser Erinnerungsvermögen schrumpfen und macht uns zu digitalen Sklaven – wir sind abhängig von Technologie.

Unsere Kapazitäten sinken also und wir sind immer mehr auf Technik angewiesen um Erinnerungen aufzuwärmen – Throwback-Thursdays und Fallback-Fridays sind schon lange in der Mitte der (Instagram-)Gesellschaft angekommen, denn unser virtueller Hang zur Nostalgie hat zugenommen. Unter dem Hashtag #tbt lassen sich im Moment über 308 Millionen Bilder auf Instagram finden: User erinnern sich liebevoll an ihr Müsli, das sie letzten Dienstag verspeist haben oder den fantastischen Meerblick im Italienurlaub 2009. Erinnerungen sind vielschichtig und werden im Jahr 2015 mit Vorliebe fotografisch festgehalten. Doch aufgepasst: Fotos, die Gefühle übermitteln – das ist leider unmöglich.

 

Erinnerung vs. Datenschutz

 

Das Paradox: Das menschliche Gehirn ist zu beeindruckenden Leistungen fähig: „Menschliches Erinnerungsvermögen verstößt gegen den Datenschutz“ titelte der Postillion und bringt damit auf satirische Weise das zum Ausdruck, was eigentlich möglich wäre – Unser Gehirn könnte jede Massendatenspeicherung in den Schatten stellen. Und doch neigen wir dazu Dinge virtuell abzuspeichern. Erinnerungen im klassischen Sinne sind irgendwie uncool geworden. Unsere Großeltern luden zur Diashow. Wir laden hoch – bei Instagram. Noch leichter macht es uns die Facebook Timeline, denn auch das ist nur ein persönlicher Zeitstrahl, der uns das Erinnern leicht macht: „Abi 2010 – schön war’s!“

Kaum einer unter Sechzig pflegt noch die gute, alte Fotoalbenkultur. Stattdessen reicht es durch die eigen Facebook-Timeline zu scrollen. Die Folgen dieser Entwicklung sind schwerwiegend, denn wir haben uns einen generationsspezifischen Reflex angeeignet: Können wir eine Frage nicht beantworten, greifen wir in die Tasche und geben die Frage weiter – an unser Handy. Diese reflexartige Geste erklärt eigentlich das gesamte Problem: Wir sind nicht mehr darauf angewiesen, uns vermeintlich unwichtige Details, wie Geburtstage, Termine oder die eigene Telefonnummer zu merken. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm reicht aus.

 

Die digitale Abhängigkeit führt zur…

 

Der britische Neuropsychologe Ian Robertson, der das Erinnerungsvermögen von 3000 Menschen untersucht hat, fand heraus, dass 87 Prozent der Teilnehmer über Fünfzig sich an wichtige Termine und Geburtstage erinnern können – im Gegensatz dazu nur vierzig Prozent der unter 30-Jährigen. Robertson meint: “The less you use of your memory, the poorer it becomes.“ und nennt die Befragten unter dreißig „heavily reliant“, also schwer abhängig von Technologie, wenn es darum geht, sich zu erinnern. Maria Wimber von der University of Birmingham erklärt, dass jedes Mal, wenn wir uns aus eigener Kraft an etwas erinnern unser Gehirn diese Erinnerung tiefer im Langzeitgedächtnis verwurzelt. Wenden wir uns aber jedes Mal an Google, wenn uns eine Antwort nicht aus dem Stegreif einfällt, neigt das Gehirn zukünftig dazu sogar einfachste Informationen auszublenden.

Und während wir immer tiefer in den Sumpf des Vergessens reinschlittern, werben Apps, wie Timehop oder Memoir mit ihren Diensten als Zeitkapsel unseres eigenen Lebens und bezeichnen das menschliche Gedächtnis als „so 2012“. Erinnerungen in Form von Bildern und Notizen können mithilfe solcher Apps in Kategorien gespeichert und wieder abgerufen werden. Suchmaschinen für unser eigenes Leben also. Was zunächst wie Wahnsinn klingt, hilft uns tatsächlich, Erinnerungen frisch zu halten. Der Mensch ist bequemlich und neigt zum „Outsourcen“, wo es nur geht. Im Gegensatz zu Arbeitsplätzen oder Umzugskisten voller Krempel, müssen Erinnerungen nicht mal teuer und aufwendig eingelagert werden, denn kleine Apps reichen aus, um Momente einzufrieren. Danach können wir sie Tage, Monate oder Jahre später wieder abrufen. Klingt eigentlich ganz geil, oder? Das Problem: Wenn unser Kind in 20 Jahren nach dem ersten Date seiner Eltern fragt  – was werden wir dann sagen? „Warte kurz, ich hol mein Handy.“ Hoffentlich nicht!

 

…digitalen Amnesie.

 

Natürlich ist das nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Menschen sich bewusst dafür entscheiden, Informationen am Langzeitgedächtnis vorbei flattern zu lassen. Ressourcen müssen schließlich gespart werden – manche Dinge fragen wir unsere Partner, Freunde und Familie einfach immer wieder. Sie haben sich den Weg zu den Großeltern in Hessen und die Abseitsregeln schließlich schon einmal gemerkt. Menschen waren also schon immer geizig mit ihrem Erinnerungsvermögen, das Problem ist bloß, dass das Internet es uns verdammt einfach macht. Es ist wie eine externe Festplatte des Langzeitgedächtnisses – praktisch, aber nur mit Internetverbindung abrufbar. Doch Fotos halten keine Gefühle fest: An Emotionen können wir nur erinnern, haben wir sie auch auf emotionaler Ebene gespeichert. Und selbst dann, ist das eine schwierige Angelegenheit – man kann also von einer digitalen Fotografie kaum erwarten, Gefühle zu übermitteln.

Uns droht die digitale Amnesie. Das heißt, dass die Sicherheit Erinnerungen jederzeit abrufen zu können, uns unterbewusst davon abhält Erlebnisse, Ereignisse und Termine abzuspeichern. Wir können sie ja, wie einen Film, jederzeit noch mal ablaufen lassen. Doch was ist, wenn die Technik doch mal versagt oder das Gerät gestohlen wird? Dann schlägt unsere Abhängigkeit in ein emotionales Alzheimer um. Wir müssen dringend aufpassen, dass die digitale Amnesie uns nicht zu vergangenheitslosen Zombies macht.

 

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Bildquelle: Vladimir Kudinov/unsplash.com