Von der Angst vergessen zu werden Phänomen

Wie wichtig bin ich? Von der Angst, vergessen zu werden

Kurz vor dem Beginn des Trojanischen Krieges hatte der Adonis unter den griechischen Helden, Achilles, die Wahl: Er hätte unversehrt von der Schlacht zurückkehren können, um mit einer liebenden Frau viele Kinder in die Welt zu setzen und glücklich und alt und verrunzelt zu sterben. Die Alternative war, sich als strahlend junger Krieger einen Pfeil durch die Sehne an seiner Ferse schießen zu lassen und langsam und qualvoll auf gegnerischem Boden zu verrecken. Nur, um für immer und ewig von der Menschheit im Gedächtnis behalten zu werden. Überflüssig zu sagen, dass er sich für letzteres entschieden hat.

Seit dieser griechischen Tragödie sind ein paar tausend Jährchen vergangen – und dennoch scheint ein bisschen Achilles in jedem von uns zu stecken. Zwar will sich kaum einer seine Unsterblichkeit mit einem gut gezielten Pfeilschuss erkaufen, aber einfach so von heute auf morgen vergessen zu werden, wollen wir doch auch nicht. Egal, ob das in Form von Selfies, Videos oder den „Ich war hier“-Kritzeleien auf sämtlichen Toilettenwänden der Welt geschieht: Einfach aus den Köpfen unserer Mitmenschen zu verschwinden und von irgendwelchen Nachfolgern ersetzt zu werden, ist scheiße.

 

Die Notwendigkeit der Individualität

 

Fluch und Segen unserer heutigen Gesellschaft ist es wohl, dass wir so viele Möglichkeiten haben. Das fängt schon damit an, dass wir nach der Schule in unterschiedliche Richtungen gehen können: Entweder wir beginnen eine von tausend verschiedenen Ausbildungen oder wir immatrikulieren uns für einen Studiengang an einer x-beliebigen Uni. Oder wir tun nichts von den zwei Dingen und verschwinden erst mal im Ausland, um „uns selbst zu finden“ – ein universaler Code dafür, monatelang auf sämtliche Verantwortung zu pfeifen und unser Leben zu einer Endlosschleife aus Freitagen umzufunktionieren.

So viele Möglichkeiten der freien Entfaltung sind wunderbar – nur blöd, dass die fast jeder hat. So sehen wir uns mit der Herausforderung konfrontiert, uns von der Masse abzugrenzen. Gerade im Job müssen wir beweisen, wie unersetzbar wir sind. Plötzlich reicht es nicht mehr aus, einfach nur gute Noten während der Ausbildungsphase einzuheimsen. Auch der Lebenslauf muss zusätzlich noch gepimped werden. Freiwilligendienst und Praktika stehen dann an oberster Stelle. Und die wiederum sollen nicht irgendwelche ersten Berufserfahrungen darstellen, sondern möglichst coole, außergewöhnliche Anstellungen sein. Denn letztendlich sollen wir später bei der Bewerbung mit diesen Erfahrungen beeindrucken – und uns von den Konkurrenten auf den einen Job abgrenzen. Um übernommen zu werden, müssen wir schon unsere Individualität beweisen können: Dass wir nicht so leicht zu ersetzen und interessant genug sind, um nicht nach dem ersten Blick des Personalchefs auf das Bewerbungsschreiben wieder in Vergessenheit zu geraten. Das Stichwort lautet: Ersetzbarkeit.

 

„Na, Baby, wie war ich?“

 

Aber nicht nur im Berufsleben treffen wir auf unser achillisch geprägtes Ziel. Auch im zwischenmenschlichen Bereich wollen wir doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Bereits im Alter von drei Jahren können wir uns auf Fotos und Videos erkennen und identifizieren. Kurze Zeit später, wenn wir zwischen vier und fünf Jahre alt sind, entwickeln wir laut dem Psychologen Philippe Rochart eine Selbstwahrnehmung, ein Bewusstsein dafür, dass wir individuelle Personen sind. Über die Jahre festigen wir den Kern unseres „Ichs“, wachsen mit Erfahrungen und Herausforderungen, die wir entweder meistern oder an denen wir scheitern. Erstaunlich, wie schnell unser so sorgfältig aufgebautes Selbstbewusstsein zerstört werden kann, wenn wir von anderen Menschen zurückgewiesen werden.

Wenn wir die Wahl hätten, uns in irgendein Tier zu verwandeln, wäre es bestimmt irgendetwas Ausgefallenes. In einen Gecko, zum Beispiel, der sich an jeder Oberfläche festklammern kann. Oder in einen Wasserläufer, der Jesus der Tierwelt. Niemand würde sich wohl in eine Eintagsfliege verwandeln wollen. Aber genau das tun wir – so oft lassen wir uns auf der Suche nach einer Beziehung (egal, welcher Art) zu einem Angehörigen dieser schnell sterbenden Gattung degradieren. Oder wachen neben solchen Eintagsfliegen auf. Dabei fühlt es sich richtig beschissen an, zu wissen, dass wir für unsere jeweilige Affäre oder auch für unseren Partner ersetzbar sind. „Ich bin kein Mann für eine Nacht“, lautet die Kernaussage der Band Madsen in ihrem gleichnamigen Song. Aber manchmal sind wir eben nur der Mann oder die Frau für eine Nacht, zu unbedeutend, um mehr zu werden, nicht das eine Wesen, für das es sich zu bleiben lohnt. Nicht besonders genug zu sein, ist gerade in Liebesdingen etwas, das nicht leicht zu verkraften ist. Wenn auf die im Bett nie ausgesprochene, aber im Bezug auf vergangene Beziehungen des Partners stets an einem nagende Frage „Na, wie war ich?“, als Antwort ein „Gut – aber völlig austauschbar“ kommen würde, ginge das an keinem von uns spurlos vorbei. Und während wir unserer jüngst verlorenen Errungenschaft noch auf Facebook hinterher stalken, hat diese schon längst einen Ersatz gefunden.

 

For ever and ever and ever ever, ever ever, …

 

Ziemlich unangenehm ist es auch, auf einen flüchtigen Bekannten zu treffen, der sich nicht mehr an uns erinnert. Der nicht nur den Namen vergessen hat, sondern überhaupt den Umstand, dass sich jemals sein Weg mit deinem gekreuzt hat. Am besten passiert das noch mit einem Schulfreund, dem man „Best Friends Forever“ auf die linke obere Ecke des Heftes geschmiert hat. Und dem man nach zwanzig Jahren wieder begegnet und der keine Ahnung mehr hat, warum er sich mit dir damals vom Schulgelände geschlichen und heimlich Zigaretten gepafft hat. Aber das Leben passiert und selbst die besten Freunde entwickeln sich manchmal in unterschiedliche Richtungen weiter – sei es wegen eines Umzugs oder des veränderten Beziehungsstatus, und können sich nach der jahrelang dauernden Trennung nicht mehr wiedererkennen.

Achilles hat es tatsächlich geschafft. Der Gute hat sein endliches Leben gegen einen unendlichen Mythos über seine Existenz getauscht. Er ist so berühmt geworden, dass kaum jemand glaubt, dass er tatsächlich existiert hat. Uns Normalsterblichen ist dieses Ziel, von der gesamten Menschheit gepriesen zu werden, letztendlich doch ein wenig too much. Wir wollen etwas weniger Hochtrabendes, nämlich von den Menschen, mit denen wir in Berührung geraten, wahrgenommen und geschätzt zu werden. Wir wollen nicht unter das Identitätsprinzip des Mathematikers Gottfried Wilhelm Leibniz fallen, welches die Austauschbarkeit zweier identischer Gegenstände meint. Aber davor sollten wir auch keine Angst haben. Weil wir erstens keine charakterlosen Dinge sind, keine Eintagsfliegen, die sofort nach ihrem sinnlosen Leben zu Staub zerfallen und niemandem wichtig genug sind, um nicht doch ein oder zwei Erinnerungen an uns zu behalten. Und zweitens, weil wir vielleicht keine unendlichen, aber doch für eine kurze Zeit sichtbare Spuren hinterlassen – zumindest bei den Menschen, denen wir etwas wert sind und für die wir um keinen Preis der Welt zu ersetzen sind (und das ganz ohne einen Pfeil, der in unserer Ferse steckt). Und der Rest, für den wir austauschbar sind – sei es im Beruf, in der Liebe oder in einer Freundschaft -, der sollte auch uns am Arsch vorbei gehen.

 

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Bildquelle: Rocksana Rocksana unter CC 0 Lizenz