Ein Experiment, das bewegt: Augenkontakt zwischen Europäern und Flüchtlingen

Manchmal braucht es nur wenige Worte, um ausdrucksstarke Aussagen treffen zu können – das zeigt zumindest ein außergewöhnliches Experiment der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Dabei orientierten sich die Aktivisten an einer Theorie, die der Psychologe Arthur Aron schon im Jahr 1997 entwickelte: „Ein vierminütiger Augenkontakt bringt Menschen einander viel näher als alles andere.“

 

Flüchtlinge werden zu Nummern und Statistiken

 

Um diese These vor allem vor dem Hintergrund der weltweiten Flüchtlingskrise zu überprüfen, mobilisierte Amnesty Poland circa ein Dutzend Menschen aus aller Welt (darunter Deutschland, Belgien, Polen, Großbritannien und Herkunftsländer wie Somalia oder Syrien) und ließ sie in einer Berliner Fabrikhalle aufeinandertreffen. Das Ziel war, wildfremden Menschen auf ganz andere Weise zu begegnen als sonst: Vor allem Flüchtlinge gehen im Chaos der Bürokratie als ein einheitliche, gesichtslose Masse unter.

Es fällt immer schwerer, Asylsuchende als Einzelpersonen mit ganz unterschiedlichen Vergangenheiten, Gefühlen und Träumen wahrzunehmen – wir konzentrieren uns immer nur auf das große Ganze: „In der Flüchtlingskrise wird alles entmenschlicht, werden die menschlichen Tragödien zu Nummern und Statistiken“, erklärte auch Amnesty International. „Aber das Leiden betrifft echte Menschen, die wie wir Familien haben, die Partner haben, Freunde und ihre eigenen Geschichten, Träume, Ziele … Nur wenn wir uns mit ihnen zusammensetzen und unserem Gegenüber in die Augen schauen, sehen wir keinen anonymen Flüchtling mehr, keinen Migranten unter vielen, sondern wir erkennen den Menschen, der wie wir liebt, leidet und träumt.“

 

Fröhliches Fangen, Flirts und Freundschaften

 

Deshalb sitzen sich in dem Videoexperiment nun jeweils ein Europäer und ein Flüchtling auf einfachen Holzbänken gegenüber und blicken sich vier Minuten lang tief in die Augen. Und tatsächlich zeigen sich die Betroffenen schon nach ein paar wenigen Sekunden tief berührt: Abwechselnd huschen Emotionen wie Zuneigung, Empathie, Mitgefühl und Trauer über ihre Gesichter. Eine syrische Frau mit Kopftuch kämpft eine Weile mit ihren Tränen, lässt ihren Gefühlen aber irgendwann einfach freien Lauf. Nach ein paar Minuten beginnen die meisten auch miteinander zu sprechen und wirken dabei seltsam vertraut.

Da ist zum Beispiel ist ein älterer deutscher Herr, der sein Gegenüber zu seinem Schnurrbart beglückwünscht, die beiden lachen sich herzlich an. Oder eine junge Deutsche mit roten Locken, die sich mit ihrem syrischen Versuchspartner zu einem weiteren Date verabredet. Tatsächlich treten alle Menschen nach dem vierminütigen Blickkontakt auch in Körperkontakt: Eine junge blonde Frau fällt ihrem Gegenüber spontan in die Arme, als der ihr in gebrochenem Englisch erzählt, dass er ganz alleine nach Deutschland gekommen ist. Zwei junge Mädchen aus Syrien und Polen beginnen nach den vier Minuten ungezwungen Fangen zu spielen.

Es ist ein aufwühlendes Experiment, das vor allem eines zeigt: Zwei Menschen brauchen keine sprachlichen oder kulturellen Barrieren zu überwinden, um sich wirklich nahe zu fühlen.