Fotos: Männer und Frauen hautnah – ohne Schönheits-Ideale

Bloß gut aussehen, denken wir uns, und verbringen schon wieder viel zu viel Zeit damit, ein passendes Facebook-Profilbild auszuwählen. Eines, auf dem wir gut ausgeleuchtet sind, alle Gesichtszüge und Körperteile an der richtigen Stelle sitzen – und wir vielleicht sogar ein bisschen sexy sind. Das machen uns Stars wie Kim Kardashian oder Lindsay Lohan schließlich vor.

Doch in einer Welt, in der Inszenierung, Retusche und Make-up zum Alltag gehören, sind es gerade die echten, ungeschminkten Fotos, die unsere Aufmerksamkeit erhaschen. Wie schön „echt“ sein kann, bewies bereits das Fotoprojekt Nu Project – ohne Make-up und ohne Photoshop. Genauso toll sind auch die Fotos der Serie „NAH“ von Lena Reiner, die sich selbst auch „Menschenfotografin“ nennt. Zunächst begann sie mit unretuschierten Bildern und ließ bald auch das Make-up weg.

 

Nah, ungeschminkt, unretuschiert

 

„Die Ungeschminktheit war unerwarteter Weise und ungeplanter Weise Mittel zum Zweck, um die Art von Ungestelltheit herzustellen, die ich mir immer gewünscht hatte. Scheinbar birgt sie eine gewisse Unsicherheit, die dann, sobald die Person sich sicherer zu fühlen beginnt, eine schöne Echtheit und Ehrlichkeit mit sich bringt“, sagt die Fotografin gegenüber ZEITjUNG.de. „Zudem sehe ich mich als Fotografin in der Verantwortung, unrealistische Schönheitsideale nicht zu fördern und denke auch: Wenn ich jemanden umretuschiere, sage ich ihm dann nicht, dass er so, wie er ist, nicht gut genug ist? So eine Botschaft mag ich nicht aussenden – egal, wie unterschwellig.“

Mit „NAH“ sollen die Betrachter hinter die Alltagsmaske blicken können. Zunächst startete das Projekt jedoch als „Das Ich und das Nicht-Ich“, erzählt Lena Reiner. „Ein völliges Desaster! Bis auf wenige Ausnahmen inszenierten sich die meisten Menschen angesichts des Themas umso mehr. Mit dem Thema ‚Ungeschminkt‘ entstanden dann so nach und nach die Fotos, die ich mir anfangs als „Ich“-Fotos erhofft hatte.“ Und die Serie „NAH“ war geboren.

Dabei fiel es ihr nicht immer leicht, zwischen „nah“ und „zu nah“ zu unterscheiden, gesteht Lena Reiner: „Es fasziniert mich, wie Menschen sich vor mir öffnen und gleichzeitig mag ich niemandem zu nahe treten. Ich nehme auch die Kamera in – für mein Bauchgefühl – zu intimen Momenten herunter. Beispielsweise, wenn jemand den Tränen nahe ist, weil er oder sie mir etwas erzählt, das ihn oder sie zum Weinen bringt. Wäre nicht genau das dann DAS Motiv? Ich weiß es manchmal selbst nicht.“

 

„Bis heute leben viele Männer das Klischee der harten Schale“

 

Besonders spannend an Lena Reiners Bildern sind auch die Männermotive. Während meist Frauen im Kontext von Schönheitsidealen fotografiert werden, liefert sie damit eine neue, spannende Perspektive: „Bis heute leben viele Männer das Klischee der harten Schale. Es ist faszinierend, darunter blicken und fotografieren zu dürfen. Zudem dürfen Männer Falten und sogar Pickel und Narben haben und gehen damit oft viel lockerer um als Frauen. Für meine Arbeit an der Ausstellung musste ich daher aber auch einen Weg finden, eine Bloßheit herzustellen, wie es mir bei den Frauen durch Makeup-Losigkeit gelungen ist. So ist die Idee entstanden, Aktfotos zum Sujet zu machen.“

Spannend sei dabei auch zu beobachten, wie sich Männer und Frauen während des Shootings verhalten. „Etwas, das fast alle verbindet, ist ein instinktives Zurückzucken oder Abwenden beim Lachen oder aber das Aufsetzen einer ernsteren Miene, wenn ich die Kamera oben habe. Bei beiden Geschlechtern legt sich das relativ schnell, aber es ist schon interessant, dass Lachen scheinbar so etwas Intimes an sich hat. Ansonsten ist es so, dass sich Männer oft weniger Gedanken um ihre Körperhaltung machen. Krumme Schultern sind da keine Seltenheit. Frauen sind sich solchen unvorteilhaften Haltungen viel bewusster, auch wenn sie noch nie vor einer Kamera gestanden haben.“

 

Wer sind die Menschen hinter den Motiven?

 

„Jeder Mensch bringt eine eigene und ganz andere Geschichte mit sich. Es sind entfernte Bekannte, Freunde von Freunden, völlig Fremde und zwischendrin ist sogar meine Mama dabei“, erzählt die Fotografin. Obgleich es aber ihre eigene Mutter oder eine fremde Person ist, nähert sich Lena nicht nur mit der Kamera, sondern auch als Mensch an. „Ich weiß, dass meine Bilder nicht entstehen können, wenn ich mich abkapsle. Ich glaube, dass auch genau das die Qualität dessen ausmacht, was da vor meiner Linse passieren kann, wenn es beide Seiten zulassen. Also kurz gesagt: Der Mensch vor meiner Linse kommt mir mindestens genau so nah wie ich ihm.“

Dabei lerne sie die Menschen auch kennen, sagt sie. „Während der Aufnahmen bekomme ich oft Geschichten aus dem Leben erzählt: vom Tod eines Angehörigen über eigene schlimme Erlebnisse und sogar bis hin zu Missbrauchsgeschichten ist alles dabei. Ich bin jedes Mal wieder gleichzeitig perplex und erfreut, wie schnell mir Viele ein so riesiges Vertrauen schenken. Ein ganz besonderes Fotoshooting war auf jeden Fall das mit Barbara Hauter. Die Nahtoderfahrene schilderte mir neben ihrer Zeit im Koma und was das mit ihr gemacht habe die Idee, Überlebendengeschichten zu sammeln. Aus diesem Gespräch entstand das Projekt Überleben, für das ich seitdem fotografiere und Termine koordiniere.“

Besucht Lena Reiner auf ihrer Website, Facebook oder in ihrer Ausstellung „Nah“. Bis dahin klickt euch durch die Bildergalerie!