Generation Hypochonder: Zwischen Exzess und Panik

„Ich habe Aids“, sagt mir meine Freundin B.* am Telefon. Bestürzt hake ich nach und will wissen, wie sie darauf kommt. „Ich habe gegoogelt“, erklärt sie. „Ich habe gegoogelt und die Symptome treffen zu.“ Ich beruhige B. Ich weiß, dass sie kein Aids hat. Sie hat nie eine der Krankheiten, von denen sie mir am Telefon erzählt. B ist Hypochonder der Generation Y.

 

„Etwa jeder 15. Bundesbürger hat Krankheitsängste“

 

Eine Person gilt dann als Hypochonder, wenn sie immer wieder oder langfristig Ängste vor einer Erkrankung hat und diese Gedanken die Lebensqualität und Leis­tungsfähigkeit beeinträchtigen. Typisch sind auch häufige Arztbesuche. In verschiedenen Praxen. Nur zur Sicherheit. Und auch nach der vierten negativen Diagnose bleiben meist Bedenken. Etwa jeder 15. Bundesbürger hat solche Krankheitsängste. Rund ein halbes Prozent gelten sogar als Hypochonder, berichtet Dr. Gaby Bleichhardt von der Psychotherapie-Ambulanz Marburg im vergangenen Jahr in der Apothekenrundschau.

Auch B. geht häufig zum Arzt. Dass sie wieder dort war, weiß ich meist, wenn sie am Telefon sagt: „Ich bin schwanger“. Natürlich ist eine Schwangerschaft keine Krankheit. Da B. jedoch an einer ungewollten Schwangerschaft mit derselben Obsession festhält, erlaube ich es mir, auch dies als Beispiel ihrer Hypochondrie anzuführen. „Ich war heute morgen beim Arzt“, sagt B. dann. „Und er meinte, es wäre nichts. Aber ich frage mich, ob er vielleicht etwas übersehen hat. Ich hätte gerne noch einen weiteren Test. Was meinst du? Ich bin doch noch gar nicht bereit für ein Kind.“ Wieder beruhige ich B. Sie ist nicht schwanger, das weiß ich.

 

„Ich fühle mich plötzlich gar nicht mehr so unantastbar“

 

Gründe für Hypochondrie können sehr vielfältig sein. Manche Betroffene sind von Natur aus ängstliche Menschen, andere haben das Verhalten im Elternhaus gelernt, heißt es in der Apothekenrundschau. Die Bildung dagegen spielt keine Rolle, schreibt FOCUS Online. Tatsächlich seien besonders häufig Leute in kreativen Berufen betroffen. So etwa der Dichter Thomas Mann, Charlie Chaplin und Entertainer Harald Schmidt. Doch auch schwere Schicksalsschläge im Bekanntenkreis fördern die Angst vor der Krankheit.

Als ich B. kennenlernte, war sie nicht ängstlich. Fast sogar ein bisschen unvorsichtig. Sie setzte sich auf öffentliche Toiletten, trug im Winter keine Socken und aß, worauf sie Lust hatte. Auch B. selbst sagt, dass sie sich verändert hat und berichtet von einem Freund, der mit 22 plötzlich mit einer lebensbedrohlichen Krankheit im Krankenhaus landete. Einfach so, ohne Vorwarnung. Eine andere Freundin wurde mit Anfang 20 von einem Auto angefahren, das aus einer Seitenstraße schoss. Ein Bekannter einer Bekannten stürzte sich ohne Fallschirm in die Tiefe, weil er seinen Rucksack dieses eine Mal nicht geprüft hatte. Wir sprechen oft über solche Geschichten. „Ich fühle mich plötzlich gar nicht mehr so unantastbar“, sagt B. dann immer.

Doch wieso denkt B. eigentlich, sie sei einmal unantastbar gewesen? Weil sie erst Anfang 20 ist? Ja. Genauer: weil die Medien ihr sagen, dass sie mit Anfang 20 unantastbar ist. So zeigte eine Analyse von vier deutschen Magazinen für junge Erwachsene, die ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit durchführte, dass uns die Medien Rollen und Werte rund um einen exzessiven Lebensstil mit Partys, Alkohol und sexuellen Abenteuern aufzeigen.

Auch Julia Engelmann ermahnte uns schon vor längerer Zeit mit penetranter Säusel-Stimme: „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, werden wir alt sein, und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.“ In den ewigen Abhandlungen der Generation Y wissen schlaue Leute in schlauen Magazinen, dass es sich dabei um heimtückische „Zukunftsangst“ handelt. Ja, ich hasse dieses Wort auch. Aber ich glaube mittlerweile, dass die schlauen Leute in den schlauen Magazinen richtig liegen. Denn wir wollen nun einmal keine Chance verpassen, nicht bedeutungslos sein, sondern etwas erleben, unsere Jugend genießen und etwas auf Facebook erzählen können – einfach das beste Leben führen, das es zu leben gibt. B. will das auch.

 

Hypochondrie der Generation Y

 

Dass B.’s Hypochondrie mit Zukunftsangst zusammenhängt, habe ich begriffen, als sie an einem Donnerstagabend bei mir anrief und sagte: „Ich habe Chlamydien.“ Nein, es sind nicht die Chlamydien, die mich aufhorchen ließen, vielmehr, was B. noch sagte: „Ich habe im Internet gelesen, dass das zu Unfruchtbarkeit führen kann. Was ist, wenn ich keine Kinder haben kann?“ Und dort liegt ein verdächtiges Paradox verborgen. Denn B. hat große Angst, ungewollt schwanger zu werden und sich so ihr Studium, Partys oder Jobchancen zu verbauen. Aber Angst hat sie auch davor, ungewollt nicht schwanger sein zu können und sich so Chancen auf ein Familienleben zu verbauen.

Damit scheint irgendwo hinter dem Medienbild der exzessiven Jugend eine neue Generation von Hypochondern heranzuwachsen (urbane Biotrends mögen das schon lange vorausgesagt haben.) Eine Generation an Hypochondern, die Angst davor hat, durch eine Krankheit nicht das beste Leben leben zu können, das man leben kann. Das sind die Hypochonder der Generation Y.

*B. möchte nicht, dass wir ihren Klarnamen verwenden.