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Sozialer Minimalismus: Sind wir faule Egoisten?

Etwas Abartigeres konnte man sich eben noch kaum vorstellen: Schluffis, Zuhause- und Liegenbleiber, Nicht-Zurückschreiber und Schon-Gar-Nicht-Abheber, gnadenlose Von-der-Partygänger, Absager, Chipsfressen und Talgköpfe. Ja, die körperliche, soziale und geistige Fäulnis ist nicht gerade das, was man gemeinhin als salonfähigen Zustand des Menschen beschreiben würde. Dennoch scheint sich das jetzt zu ändern – Faulheit und Egoismus werden endlich modern. Der Dank gebührt wie immer: der richtigen Attitüde.

 

Die Minimalismus-Bewegung

 

Es ist die neue Minimalismus-Bewegung, die gerade in das Leben vieler junger Erwachsener schwappt und genug idealistisches Treibholz anschwemmt, um daraus ein gemütliches Bett für die Gemütlichkeit zu bauen. Wer sich nun schon erwartungsvoll die Jogginghose übergestreift, muss sich aber noch einen Moment gedulden.

Kommen wir zunächst zum ursprünglichen Wesen der Bewegung, denn dahinter steckt eine tolle Idee: Junge Leute versuchen, den eigenen Konsum einzuschränken, auf überflüssige Dinge zu verzichten – und sich vielleicht sogar selbst zu versorgen. So sind es auch am häufigsten junge Erwachsene, die in den Wald ziehen, um der Gesellschaft zu entfliehen, sagt Sozialpädagoge Dominik Appelt dem Magazin presstige. Damit verknüpft sind Trends wie die DIY-Kultur, Carsharing oder Upcycling, die immer wieder spannende Start-up-Unternehmen inspirieren. Damit stellt stellt der Minimalismus eine Art Gegenbewegung zum ständigen Überfluss und Materialismus in der heutigen Gesellschaft dar, berichtet die Website Utopia. „Beim minimalistischen Lebensstil geht es vor allem (im wörtlichen oder im übertragenen Sinne) um ein Befreien von Ballast, eine Reduzierung von als unnötig Empfundenem und den Wunsch nach einem einfachen Leben.“ Dass dieser Einsatz für Nachhaltigkeit und ein bewusstes Konsumverhalten alles andere als Faulenzerei und Egoismus ist, steht außer Frage.

 

Heute zieht man schnell mal den Schlussstrich

 

Vielmehr ist es das Sozialleben, welchem wir uns zunehmend mit minimalistischer Schablone nähern, das uns der Gemütlichkeit und des Egoismus verdächtigt. Irgendwann zwischen Verlustängsten und vergangenen Monaten ist es zum Trend geworden, Nachrichten unbeantwortet zu lassen, Small Talk auf Partys kategorisch abzulehen, kriselnde Beziehungen sofort zu beenden, alte Freundschaften zu kappen, und Probleme schnellst möglich von Bord zu werfen. Mit der Hygiene nimmt man es auch nicht mehr so genau.

Achselhaare sind aus Gründen der Überzeugung wieder modern. Fettiges Haupthaar auch. Alte Freundschaften eine Last. Und Beziehungen nur dann haltbar, wenn sie so geschmeidig sind wie die ungewaschene Krause. Da ist man mittlerweile radikal. So wie NEON-Redakteurin Fiona Weber-Steinhaus, die ihren alten Bekanntschaften vorschlägt: „Lass uns keine Freunde mehr sein“. Sie wolle keine SMS, Zeit und leere Worte verschwenden an Verabredungen, die sowieso nie zustande kämen. Wolle es einfach beenden. Denn „alte Freundschaften sind nicht unbedingt die besten Freundschaften. Die meisten sind einfach nur alt.“ Auch ZEITjUNG fragt: „Warum das Kontakthalten nicht einfach sein lassen?“ Und Bloggerin Ada Blitzkrieg hat genug vom Partykapitalismus. „Heute muss man alle kennen und man muss mit vielen unterwegs sein. Der gesunde Egoismus ist verloren gegangen. Ich will das Soziale ablehnen. Ich nehme mir vor, vermehrt Dinge mit mir alleine zu unternehmen, um mich nicht auseinander zu leben.“

 

Daran ist doch etwas faul

 

All das klingt vernüftig, gesund und auch irgendwie erwachsen, klingt nach einem Neustart in eine unbeschwertere Zukunft. Aber machen wir es uns damit nicht auch ein bisschen zu einfach? Ist es zynisch, hinter vielen der jungen Minimalisten, alte Faulenzer und Egoisten zu vermuten? Denn sind wir einmal ganz ehrlich zu uns selbst: Wie viel Idealismus und wie viel Faulheit stecken wirklich dahinter, Freundschaften nicht mehr zu pflegen? Oder den eigenen Körper?

Führten wir diesen Gedanken ad absurdum, könnten Faulenzer durch die Minimalismus-Bewegung neben der Ruhepause endlich auch die Ruhe finden. Den ganzen Tag ungeniert im Schlafanzug verbringen, auch ganz offiziell jede Mahlzeit im Bett einnehmen oder zum dritten Mal in Folge Nudeln kochen. Es wäre plötzlich hip, zu desozialisieren: Erst nächste Woche wieder duschen zu gehen, eventuell danach den platzenden Nachrichtenspeicher zu bearbeiten und die Verabredung für den Abend abzusagen, weil einfach zu viele uninteressante Leute da sind. Stattdessen Serien zu schauen und sich dann robbendenderweise ins Bett zu begeben. Man hält es schließlich minimalistisch. Der Gedanke ist verlockend.

Damit drängt sich der Verdacht auf, dass Lifestyle-Trends wie der „soziale“ Minimalismus uns dabei helfen, dunkle Stellen unseres Lebens mit strahlender Hipness auszuleuchten. ZEITjUNG-Redakteurin Jana Kreutzer hat in einem Artikel einmal gefragt: „Woran glaubt die Gen-Y eigentlich?“ An Abspaltungen und Neuauflagen von Religion statt traditionellem Christentum, lautet ihre Antwort damals. Führen wir dieses Gedankenspiel weiter, lassen sich aber auch jene Lifestyle-Entscheidungen wie der Minimalismus, Veganismus, die Polyamorie oder der Fitnesstrend einer zeitgemäßen Form von Glaube zuordnen. Schließlich sind sie es, die unser Leben mit Regeln und Werten ausstatten, die manchmal sogar ein scheinbares Fehlverhalten rechtfertigen.

 

Faul und egoistisch mit fundierter Begründung

 

Ob man diesen Trends damit einen bedeutungsüberladenen Stempel aufdrückt, will ich von Dr. Jasmin Siri vom Lehrstuhl für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München wissen. Sie sagt: „Solche Trends sind immer mehr als nur Lifestyle-Erscheinungen. Es steht ganz klar ein Wertesystem dahinter. Es ist zwar zu weit aus dem Fenster gelehnt, von Ideologien zu sprechen, aber einen ideologischen Charakter sehe ich durchaus.“ In solchen Wertesystemen fänden Menschen Orientierung, Sicherheit und eben auch die Rechtfertigung für ein bestimmtes Verhalten. „Interessant ist zudem, dass all diese Lifestyle-Trends eine Art Rückzug ins Private darstellen. Man macht das für sich und allein mit sich. Das trifft gerade auf den Minimalismus zu. Wird nämlich ein minimalistischer Lebensstil auch auf menschliche Beziehungen angewandt, und etwa eine alte Freundschaft aussortiert, könnte man das wissenschaftlich als Theoretisierung von Egoismus verstehen.“ Ungeschönt ausgedrückt, sind wir also faul und egoistisch mit fundierter Begründung. Aber kann man’s uns verdenken? In einer Gesellschaft der Selbstoptimierung und Reizüberflutung scheint das doch beinahe überlebenswichtig.

Schlussendlich sind Bewegungen wie der Minimalismus also ein bisschen von beidem: geschickte Täuschungsmaöver und gesunde Überzeugung. Zuletzt darf man auch nicht unerwähnt lassen, dass es verdammt hart sein kann, Freundschaften zu kündigen, Beziehungen zu beenden und mit ungewaschenen Haaren aus dem Haus zu gehen.

 

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Bildquelle: Franca Gimenez unter CC BY-ND 2.0