Vollkommen unvollkommen: Ein Essay über das Leben

Von Viktoria Vee

Es wird sich jeder zumindest noch vage daran erinnern können, wie man sich als Kind oder Jugendlicher das Leben als Erwachsener vorgestellt und herbeigesehnt hat und vermutlich ahnte niemand von uns, dass man später selbst zu der erwachsenen Person wird, die mit bedeutungsschwerem Blick an jedes Kind appelliert, es solle doch bitte sein Kindsein genießen und sich mit dem Erwachsenwerden noch Zeit lassen. Dieses Kind ist jetzt jedenfalls mehr oder minder in den Brunnen gefallen und da steht man nun: mitten im Leben – mit dem Gefühl genau an diesem vorbei zu leben.

Die erste Liebe ist passé und schwindet immer mehr aus dem Bewusstsein, mit einem noch leicht bitteren Nachgeschmack der verloren gegangenen jugendlichen Leichtigkeit. Die zweite große Liebe und die damit verbundene Beziehung hat man irgendwie auch gegen die Wand gefahren und irgendwann, wenn der Kummer nachgelassen hat, stellt man fest, dass man möglicherweise mehr dazu beigetragen hat, als man sich damals eingestehen wollte. Man gesteht es sich auch jetzt nicht ganz ein, man sucht eben weiter, denn das kann es nicht gewesen sein, das Leben muss noch etwas Besseres für einen parat halten.

 

Selbstständig und kultiviert und am gesellschaftlichen Leben interessiert

 

Die einen arbeiten seit Jahren vor sich oder zumindest auf etwas hin, die anderen drücken sich genau davor und schöpfen ihre Höchststudiendauer bis zum allerletzten Semester aus und freunden sich mit der Möglichkeit an, ein wenig rumzuhartzen, „wenn’s wirklich wär“. Belastung empfindet man bei dem Gedanken, noch nicht in Australien, Neuseeland oder Kambodscha gebackpacked zu haben und die unzähligen Blogs und Instagramprofile zufällig Begünstigter lassen langsam aber sicher das Gefühl in einem aufkeimen, man sei nicht ganz an dem Punkt angelangt, wo man sich eigentlich gerne sähe. Man hat vielleicht sogar einige wenige Talente, könnte diese aber durchaus effektiver einsetzen. Man hat zwar gute und wahre Freunde, hat aber mindestens genauso viele Freundschaften bereits verloren oder irgendwie genauso an die Wand gefahren wie jede Liebschaft. Von der Gründung einer Familie ist man ungefähr so weit entfernt, wie man von der eigenen mittlerweile lebt. Und wenn unsere Liebsten uns auf Bildern und Videos markieren, deren wesentliche Aussage darin liegt, wie wenig wir es ohne Alkohol aushalten und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir als einsame Katzenlady enden, schmunzeln wir zwar darüber, aber wir würden unsere Hand auch nicht unbedingt ins Feuer legen und das Gegenteil behaupten. Ein verkaterter Sonntag gleicht dem anderen und durch all die Feierei büßt man mehr und mehr an Lebendigkeit ein – zumindest im Nachhinein. Wenn ich mal mit meiner Mama whatsappe und wir zur Abwechslung ein paar Worte statt Emojis wechseln und ich stolz verkünde, dass ich mal wieder feiern gehe und keine Antwort auf ihre Frage habe, was ich denn (wieder) zu feiern hätte, stellt sich das Gefühl kurz ein, nicht ganz auf der richtigen Spur zu sein. Man hat den Weg zwar nicht verfehlt, schließlich hat man die Mittlere Reife und/ oder Abitur und – auch wenn man persönlich nicht mehr an seinen Studienabschluss glaubt – bald einen Bachelortitel vorzuweisen, der heutzutage schließlich auch nicht nur hergeschenkt wird und man ist außerdem selbständig und kultiviert und am gesellschaftlichen Leben interessiert. Auch wenn man sich immer noch nicht politisch einsetzt.

 

Auf ins Land des Bruttonationalglücks

 

Von Tag zu Tag rückt einem das schlechte Gewissen näher auf den Leib und man hat die eigene Ausredeschleife satt. Wir wollen das Beste aus uns rausholen und eine gewisse Lebensqualität steht uns eben zu. Wir suchen nach dem Glück, suchen es in anderen Menschen, an verschiedenen Orten, in unterschiedlichen Dingen und vergessen ab und zu, innezuhalten und unser bereits vorhandenes Glück in seiner Vollwertigkeit zu genießen.

Wir sind frei. Wir können hingehen, hinfahren und hinfliegen wo auch immer wir hin möchten und das oft schon zum Preis von ein Paar Schuhen, die Kinderhände für uns nähen und die wir uns ja doch alle irgendwie leisten können. Vielleicht geht meine nächste Reise nach Bhutan – ein Königreich, in dem es ein Bruttonationalglück gibt. Vielleicht besinne ich mich aber auch und fange an, das Glück in mir selbst zu suchen. Das Glück, das zu sein, was ich bin. Mit all der verloren gegangenen Leichtigkeit, die nichtsdestotrotz zu ihrer Zeit ausgelebt wurde, mit all der hinzugekommenen Last und der mangelnden Risikobereitschaft. Wir haben das Glück, all das und noch so viel mehr jeden Tag auskosten zu können. Wir leben nicht vollkommen am Leben vorbei. Wir müssen nur akzeptieren, wie wundervoll es ist, unvollkommen zu sein. Aber eben zu sein.

 

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Bildquelle: Camilla Cordeiro unter CC0 1.0