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Segen und Fluch zugleich: Ein Leben als hochsensibler Mensch

Von Ruth Mairvongrasspeinten

 

Sensibelchen! Weichei! Mimose! Nicht lebensfähig! Nicht kritikfähig! … das sind nur einige der vielen Vorwürfe und Schimpfwörter, die sich Nadine oft anhören muss. Immer mit dem Appell verbunden: Jetzt reiß dich zusammen, ganz so schlimm kann das gar nicht sein! Der Begriff „Hochsensibilität“ ist ihr schon vor Jahren begegnet, aber immer in einem negativen Zusammenhang. Sie solle daran arbeiten und sie überwinden, wurde ihr geraten. Für ihren Job in der Werbebranche war sie zu wenig tough, als Erzieherin wurden ihr die destruktiven Stimmungen zu viel. Heute hat sie ihren Platz als Sängerin, Songwriterin und Lehrerin für Gesang und Qigong gefunden.

 

Ein helles Zimmer kann schon zuviel sein

 

Winzige seelische Regungen, der Anflug einer Gemütsschwankung, subtile Vorboten eines Ereignisses nimmt Nadine ungefiltert wahr. Sie ahnt Geschehnisse voraus, kann Menschen und Situationen präzise einschätzen sowie Stimmungen begreifen, noch bevor sie für ihre Mitmenschen greifbar sind. Alltag für Nadine. Ihr Gehirn nimmt Reize verstärkt auf. Ein helles Zimmer ist dann an manchen Tagen einfach zu grell, Lärm tönt in ihren Ohren unerträglich laut, eine zorngeladene Atmosphäre schmerzt sie seelisch und körperlich, schlechte Stimmungen krallen sich in ihre Seele. „Ich fühle zu viel, seelisch und körperlich“, fasst sie ihre Gabe zusammen. Ja, eine Begabung, auch wenn sie manchmal ein Fluch sein kann.

Bei Hochsensiblen Menschen funktioniert die Reizverarbeitung anders als bei normal sensiblen. Diese besondere Reizverarbeitung im Gehirn ist mittlerweile Gegenstand neuropsychologischer Forschungen. Die nordamerikanische Psychologin Elaine Aron hat in diesem Bereich Mitte der 1990er Jahre Pionierarbeit geleistet, indem sie nachgewiesen hat, dass Hochsensibilität ein Persönlichkeitsmerkmal ist und keine Krankheit. Laut ihren Berechnungen sollen ungefähr 15 bis 20 Prozent aller Menschen hochsensibel sein. Viele Menschen wissen gar nichts von ihrer Gabe und leiden oft darunter, „anders“ zu sein.

 

Hochsensible sind im Privatleben unersetzbar

 

Destruktive Stimmungen lassen Hochsensible wie eine Blume in trockener Erde welken. Eine positive Atmosphäre bringt sie zum blühen. Neben sehen, hören, riechen, und tasten ist der sechste Sinn intensiv ausgeprägt: Hochsensible fühlen stärker und heftiger: Intuitionen, Instinkte, Kreativität und Vorahnungen sind ausgeprägte Wesenszüge. Genau durch diese Fähigkeiten werden sie nicht nur im privaten sondern auch im beruflichen Umfeld unersetzbar. Sie können Situationen und Personen, Arbeitsabläufe, Probleme und Unstimmigkeiten präzise einschätzen, meist sogar schon bevor andere sie überhaupt erkennen. Seit zwei Jahren weiß Nadine, dass ihre Begabung etwas besonderes ist. „Ich bin stolz, feinfühlig zu sein und Dinge zu ahnen, bevor sie geschehen“, sagt sie heute, auch wenn sie von manchen Freunden nicht mehr nach ihrer Meinung gefragt wird, weil sie Angst vor ihrer Einschätzung haben – oder eben vor der Wahrheit. „In solchen Momenten ist diese Begabung auch belastend, das schmerzt nicht nur seelisch sondern auch körperlich“, erklärt Nadine. Einerseits ist sie eine lebendige Person, andererseits braucht sie viel Ruhe: „Die Natur ist mein Zufluchtsort, Wald, Wiesen und schöne Plätze geben mir die Kraft, die ich brauche. Wasser ist mein Lebenselixier, ich brauche es immer um mich herum. Am liebsten habe ich das Meer.“

 

Ein Herz aus Seidenpapier

 

Auszeiten sind essentiell für Hochsensible, dieses „Luft holen“ bringt ihnen oft die besten Ideen und vor allem wieder neue Energie für den Alltag und den Umgang mit weniger sensiblen Menschen. „Mir kommt es vor, als wäre mein Herz aus Seidenpapier. Ich wünschte, die Welt würde vorsichtiger mit ihm umgehen“, dieses Zitat der amerikanischen Autorin Richelle E. Goodrich spricht wohl aus der Seele vieler hochsensibler Menschen. Und Nadine appelliert für mehr Menschlichkeit, indem sie sagt: „Hochsensibilität ist sehr vielschichtig, auch wenn nicht jeder die Eigenschaft dazu hat, glaube ich, dass jeder Mensch dazu fähig wäre. Das Gehirn muss nur stimuliert werden.“

Auf ihrer Facebookseite HochsensibelSelbsthilfe bietet sie Informationen zum Thema sowie eine Austauschplattform für Hochsensible Personen

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