spiel gamification

Marketing: Das Leben ist ein Spiel

von Rosali Wiesheu

Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, oh ja, er liiiieebt mich! Auf dem Pausenhof der Grundschule hingen wir Kaugummi kauend an der Wand und fanden uns ziemlich lässig. Aber eigentlich war das monotone Kauen lediglich die sekundäre Konsequenz eines primären Anliegens: Die spitzen Zacken der silbrig glänzenden Verpackung des immer irgendwie straßenverstaubt wirkenden Wrigley’s Spearmint zu zählen, um uns am Ende schicksalsgläubig zu vergewissern, dass der Typ aus der neunten Klasse wirklich auf einen steht. Oder eben nicht. So hatte die kleine, klebrige Harzmilchsaftmasse klammheimlich das Gänseblümchen unserer Kindheit ersetzt. Und irgendwie scheint das der Industrie, die hinter Wrigley’s steht, ziemlich imponiert zu haben, denn seit ein paar Monaten haben die PR-Verantwortlichen dieses Spielchen zur geschickten Marketing-Strategie ausgebaut.

 

Wahrheit oder Pflicht?

 

Solltet ihr euch in der nächsten Zeit an der Supermarktkasse für den Kauf eines der 5-Gum Exemplare mit dem Geschmack von Himbeeren, Erdbeeren oder – für fortgeschrittene Gaumen – Goji-Beeren entscheiden, macht euch auf einen Zeitsprung in eure Teenie-Zeit gefasst. Denn hinter jedem fünften 5-Gum-Kaugummistreifen – ausgefuchstes Marketing! – verbergen sich Wahrheit oder Pflicht-Aufgaben. Beispiel?

 

„Wahrheit: Was ist die eine Eigenschaft von dir, von der du hoffst, dass jemand sich daran erinnert?“

„Pflicht: Moon walk zu deinem nächsten Ziel“

 

„Wahrheit: Was ist dein geheimes Talent? Nicht sagen, sondern zeigen.“

„Pflicht: Mach ein Foto von dem, was sich gerade hinter dir befindet, ohne dass du dich umdrehst.“

 

„Wahrheit: Was ist das schönste Kompliment, das dir jemals gemacht wurde?“

„Pflicht: Schreibe der Person, mit der du das schlechteste Date jemals hattest, und verabrede dich erneut.“

Chapeau, Wrigley’s! Gamification von Alltagsgegenständen, vor allem von essbaren, hat bisher immer wunderbar als Marketing-Strategie funktioniert, wofür Kinderüberraschung oder McDonald’s Happy Meal nur die Speerspitze der geläufigen Beispiele darstellen.

 

Vom Kauen zum Küssen zum Blowjob

 

Waren letztgenannte vergleichsweise harmlos, geht Wrigley’s einen Schritt weiter und verknüpft unser körperliches Aufnahmeorgan geschickt mit anderen Einsatzkontexten. Dass der Mund nicht nur zum lässigen Kaugummi-Kauen, sondern auch zum Küssen, zu Blowjobs oder anderweitigen Zungenspielchen taugt, ist zwar unterschwellig bekannt, wird durch Wrigley’s interaktive Wahrheit-oder-Pflicht-Aktion explizit eingesetzt. Nicht umsonst zielen die Aufgaben bewusst auf sexualisierte Interaktion mit dem Umfeld (Dating, Tanzen, Fotos) oder Ego-Push (Kompliment, beste Eigenschaft, verborgenes Talent) und spielen mit einer Grundkomponente, die die menschliche Kultur ausmacht: dem Spiel.

 

Von den steinzeitlichen Steinchenspielen zur postmodernen Spielifizierung

 

In dem Moment, in dem der prähistorische Mensch den Stein aus seinem Umfeld zweckentfremdet hat und ihn als Waffe oder eben als Spielsteinchen in einem in den Sand gezeichneten Feld einsetzte, vollzog er einen schöpferischen Akt. Er löste sich von der bloßen Kenntnis oder Bezeichnung der Dinge und verwendete sie in einem neuen Kontext. Gleichzeitig konnte er so der langsam einsetzen Ratio entkommen. Denn im Spielen verliert man sich, versetzt sich in eine andere Rolle, denkt nicht mehr nach über Nutzen und Nachteil seiner Selbstnarration für das Leben nach, sondern unterwirft sich bereitwillig dem Zufall und heckt Strategien zu dessen Minimierung aus.

Die produktiven Lernprozesse, die sich daraus generieren, versuchen aktuell hyperinnovative Uniprojekte für eine Reformierung des herkömmlichen Schullernprozesses fruchtbar zu machen und erstellen spielerische Konzepte, um zum Beispiel Mathe zu lernen. Man will ja Anreize schaffen und so. Viel interessanter ist aber eigentlich die Frage, was man mit Spielen macht, die so ganz ohne Gegenstand auskommen – und nur über ein Objekt wie den Kaugummi vermittelt werden (geschickt gemacht, Wrigley’s!). Kein Stein mehr, der zum Würfel umfunktioniert wird, kein Holzstück, das als Platzhalter für eine bestimmte Figur auf einem Spielfeld dient, sondern Worte, die Aktionen nach sich ziehen.

 

Kau(f)e, um frei zu sein!

 

Zugegeben, manchmal würde ich wirklich gerne moonwalkend durch die Gegend sliden, der Welt oder meinem Gegenüber bekunden, dass ich betrunken mega authentisch französische Chansons nachchansonnieren kann und dem letzten missratenen Date noch eine Chance geben.

Problem: Einfach so traue ich mich das nicht. Und genau mit diesem Vorbehalt spielt die Werbeindustrie. Wrigley’s gibt uns mit seinem neuen Gimmick einen Vorwand, so crazy zu sein, wie wir es allein nicht wagen würden. Klar wär’s geiler, das auch ohne Freifahrtschein zu tun, nur leider steht da die Welt mit ihren Reglementierungen im Weg und unsere Angst, Grenzen zu überschreiten, uns eine Blöße zu geben, für die wir uns im Post-Kater-Stadium in Grund und Boden schämen. Und genau da hackt sich Wrigley’s als gemeinhin anerkannter … Kaugummi… ein und präsentiert die Lösung: Kau(f)en, um frei zu sein.

Kaufe einen Kaugummi und du kannst machen, was du willst. Dafür hast du auch noch die sozial anerkannte Absolution. Denn hey, ist ja alles nur ein Spiel. Und wenn dir jemand blöd kommt, hältst du ihm die blitzende Verpackung unter die Nase, auf der schwarz auf Silber steht, dass du das tun musst. Und so sind wir brave Kapitalismus-Sklaven, die ja doch nur das ausführen, was ihnen gesagt wird. Nur, dass wir daraus natürlich einen persönlichen Nutzen ziehen: locker ausgelassen unsere Crazyness zelebrieren – mit Grund und ohne uns danach dafür zu schämen. Dass wir dabei ganz nebenbei den Absatz der weltbekannten Chewinggum-Marke steigern, interessiert in erster Linie nur die Marke selbst.