Mutig sein trau dich

Trau dich, mach was falsch!

Wenn die Sonne am Ende der Straße verschwindet, der Himmel verfärbt ist wie ein ungewaschenes Laken. Wenn sich eine langsame und müde Schwere über die Stadt und ihre Menschen legt. Wenn es kühl wird, man von einer Bleiernheit erfüllt wird, die abzulegen unmöglich erscheint. In diesen Momenten des Innehaltens, in denen Kleinigkeiten wie mentale Marathonläufe anmuten, ist man geneigt, es sein zu lassen wie alle anderen, den einfachen Weg zu gehen, den der geringsten Widerstände.

Denn es wäre alles so schön einfach, ein gutes Leben, alles in Ordnung. Der Job? Okay. Die Wohnung? Okay. Die Gespräche? Okay. Die Filme, die man sieht? Okay. Okay ist etwas Gutes. Okay ist okay. Und überhaupt: Die Momente, die im Kino immer die Luft zum Vibrieren bringen und Gänsehaut verursachen, gibt es eben nur dort, im fiktiven Raum zwischen Zuschauer und Leinwand. Im echten Leben dagegen gilt es, sich zu arrangieren, sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Das ist der Maßstab, den viele an sich und ihre Umwelt anlegen: Angenehm soll es sein, Unangenehmes so selten wie möglich vorkommen. Was dabei aber verloren geht zwischen Lieferservice, Netflix und Weckerklingeln am Morgen, ist der Mut.

Die Gefahr zu fallen, oft schmerzhaft, ist dann natürlich ungleich höher, wenn man sich mit okay nicht zufrieden gibt. Und dennoch sollten die Menschen genau das tun. Mutig sein, sich trauen, nach Sternen greifen, auch beim nächsten Mal wieder, wenn sie sich verbrannt haben. Sollte nicht der Anspruch in dem einen Leben, das man hat, sein, nach Größerem als Okay-Momenten zu streben. Sollte man nicht die Haustür hinter sich schließen und da raus gehen, in diese Welt voller Sonne, Regen, Hass, Liebe, Wut und Glück? Sollte es nicht so sein, dass man später, die faltigen Hände über verknickte Fotoecken streichend, zurückschaut und ein mutiges Leben sieht? Eines, in dem man Ängste überwunden, Gefühle gefühlt, Täler durchquert und Hügel erklommen hat?

 

Es geht nicht darum, perfekt zu sein

 

Es geht dabei nicht um Geld. Nicht darum, alles perfekt zu machen. Es geht nicht um Uni-Noten oder darum, immer nur in der Sonne zu leben und sich selbst zu optimieren. Es geht viel mehr um das Leben an sich. Um die Kleinigkeiten. Um das Unperfekte, das man mit allem lebt, was man hat. Es geht darum, dass man sich traut, das zu tun, was man möchte. Egal, was andere sagen oder denken. Es geht um den Mut, ein wenig mehr sich selbst zu erkennen und ein kleines bisschen weniger die ständig umher schwirrenden Meinungen und Entwürfe der anderen.

Die Suche danach, nach dem Kleinen, das einem etwas bedeutet, sollte dabei nie aufhören. Nur niemals die Gewissheit verlieren, dass es irgendwo da draußen in dieser großen, verrückten Welt noch mehr gibt. Nur nie aufhören, diese kleinen, geheimen Träume, die wir alle haben, wegzusperren. Auch wenn das Leben zeigt, dass es ein hinterhältiger Verräter sein kann. Auch wenn man mit 180 Sachen auf einen Abgrund zusteuert. Denn gerade nach Enttäuschungen sollte in einem der Mut nicht sterben, sondern sich behutsam ausbreiten, um dann für die nötige Kraft zu sorgen, etwas Neues zu machen, neue Entwürfe zu testen, vom Boden abhebend auf etwas zuzusteuern, von dem man absolut nicht weiß, was es mit einem macht.

 

Raum für das Verrückte

 

In all den komplizierten Zusammenhängen, aus denen sich unser Leben zusammensetzt, sollte immer kleiner Raum bleiben für den Mut, das Verrückte, das Brennen, das Trauen, das Leben, das Empfinden der Kleinigkeit, über die wir viel zu oft taub und blind hinwegtrampeln. „Okay is not the reason you go to bed late and wake up early“, hat Kovie Biakolo gesagt. „Okay is not the reason you risk absolutely everything you’ve got just for the smallest chance that something absolutely amazing could happen.“ Man muss gar keine Sicht annehmen, die einem sonst von Kalendersprüchen entgegengeschleudert wird.

Es reicht schon, wenn man mit Mut im Herzen der Sonne am Ende der Straße entgegenläuft. Wenn man die Kühlheit als Freundin empfängt. Wenn man den Himmel nicht dreckig findet, sondern ganz wunderbar. Und wenn man die Müdigkeit nicht als Lästigkeit des Menschseins abtut, sondern als Beweis dafür, dass man so sehr lebt, dass man auch in den Nächten das Früh-zu-Bett-Gehen nicht gewinnen lässt, sondern sein kleines bisschen Leben auch in jene Stunden ausweitet, in denen ohne Straßenlaternen alles von Dunkelheit eingehüllt wäre. Denn es geht nicht um den Mut zu immerzu Großem, sondern um den zum viel weniger Sichtbaren.

 

 

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Bildquelle: Ethan Sykes unter CC0 Lizenz