Mitfahrgelegenheit im Schnee

In der Mitfahrgelegenheit mit einem Winterreifen-Verweigerer

Winterreifen? Braucht ja niemand!

Nachdem wir eine Weile so vor uns hin gerutscht sind, teilt uns der Fahrer eher belustigt mit, dass er nicht mal Winterreifen hat – aus Überzeugung. Ich bin mir nicht sicher, ob der Fahrer in diesem Moment auf der einsamen Suche nach Bestätigung für seine „Überzeugung“ war oder ob er einfach laut dachte, ich bin mir aber sicher, dass selbst ihm gerade das Licht aufging, dass dieser Reifenwechsel zu Winterreifen irgendeine Berechtigung hat. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat empfiehlt übrigens das Fahren von Sommerreifen im Sommer und von Winterreifen im Winter. So weit, so einleuchtend.

Während ich still vor mich hin überlege, ob der Fahrer zu logischem Denken in der Lage ist, kommt der schon wieder auf eine weitere, in seinen Augen bestimmt verdammt clevere Idee: Von der Autobahn runter fahren, weil die Landstraßen ja bekanntlich im Schneechaos noch viel besser geräumt werden als Autobahnen. Wirklich, Fahrer, wirklich?!

Keine Ahnung, welche seiner Synapsen im Hirn da einen Kurzschluss hatte, jedenfalls finden wir uns auf einer Landstraße wieder, die überraschenderweise völlig zugeschneit ist. Das Ganze ist ungefähr so überraschend wie die Überraschung im Überraschungsei. Unter uns Mitfahrern herrscht mittlerweile ungläubiges Schweigen. Nachdem unser Fahrer das mit dem Lenken schließlich aufgibt, weil wir nur noch rutschen, fahren wir einfach nur noch stur geradeaus auf der Landstraße irgendwo im Nirgendwo. In einem kleinen Anstieg (wir sind auf der Schwäbischen Alb – soll da vorkommen!) findet unser Fahrer mit seinem sommerlichen Auto schließlich seinen Endgegner. Bei dem Versuch, den Berg aus dem Stand mit Vollgas zu bezwingen, rutschen wir nach rechts ab und landen im Graben.

Lass mal schieben

Die meisten Menschen hätten sich geschlagen gegeben, nicht aber unser unglaublich kluger Fahrer, der als Ein-Mann-Kampfmaschine versucht, sein Auto aus dem Graben zu schieben. Ein Wunder, dass er sich bei diesem Versuch nicht selbst überfahren hat. Marie und ich gehen am Straßenrand entlang, wahrscheinlich können wir beide den Anblick einfach nicht mehr ertragen und überlegen, was wir jetzt machen sollen. Es ist mittlerweile dunkel, eiskalt und wir sind vom Schnee richtig schön nass. Was macht man als kluge Frau an der Straße mit einem Ziel vor Augen? Klar: trampen! Die Landstraße ist zwar nicht besonders gut befahren, aber irgendwas müssen wir ja machen, wenn wir nicht noch ewig im Schnee stehen wollen.

Transporter – The Mission

Plötzlich ist das Glück auf unserer Seite! Nach nicht mal fünf Minuten hält ein großer weißer Transporter am Straßenrand. Ein nettes junges Ehepaar bietet uns an, uns zum nächsten Bahnhof mitzunehmen. Bevor wir übermütig ins Warme des Führerhauses im Transporter springen, macht uns das Ehepaar vorsichtig darauf aufmerksam, dass sie nur Platz auf der Ladefläche haben- hinten, im Dunkeln. Marie und ich sind sofort überzeugt – wir hätten uns wahrscheinlich auch mit Schlitten an den Transporter drangehängt, Hauptsache wir müssen das Gesicht unseres unfähigen Fahrers nicht mehr sehen und kommen weg (von wo auch immer wir da gerade waren).
Keine 5 Minuten später haben wir Tom überredet und sitzen mit Sack und Pack auf der dunklen Ladefläche. Selbst unser Fahrer hat seine Bergungsversuche in der Zwischenzeit aufgegeben und wartet jetzt geduldig am Straßenrand in der Kälte auf die gelben Engel.  Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Während wir so still vor uns hinfahren, schaut Tom, von dessen Statur man sich als naive Frau Schutz erhofft, durch ein kleines Loch in der Wand vom Transporter. Erschrocken dreht er sich zu uns und flüstert total nervös, dass wir im Wald sind und wahrscheinlich gerade entführt werden.

Tom hat Angst

Und als hätte der König von Absurdistan einen besonders guten Tag, teilt uns Tom dann auch direkt mit, dass er jetzt Angst habe und wir ihm bitte die Hand halten sollen. An sich ist es ja sehr lobenswert, wenn Männer ihre Gefühle zeigen, aber ich bin nicht überzeugt, ob Tom den richtigen Zeitpunkt für seinen Gefühlsausbruch gewählt hat. Ein Blick genügt und Marie und ich gelangen zu dem stillen Einverständnis, dass wir Tom im Falle eines Hänsel-und-Gretel-Revivals zuerst opfern. Kurz bevor unsere Hände vom Drücken völlig zermatscht sind, halten wir an. Die Türen gehen auf und…. wir sind am Bahnhof! Dieses Ehepaar scheint echt von einem sehr mitfühlenden Engel geschickt worden zu sein!

Wir drei gehen zusammen zum Zug, Tom verschwindet dann aber auf mysteriöse Weise ziemlich schnell – wahrscheinlich fand er den Zeitpunkt für seine Angstoffenbarung doch nicht so passend gewählt – Marie und ich teilen uns dann noch die – Achtung, Ironie des Schicksals – Lebkuchenhäuschen, die sie für ihre Familie gebacken hatte. So viel zu Hänsel und Gretel. Mit nur sechs Stunden Verspätung kommen wir ganz schön fertig in Stuttgart an.

Von nun an lieber Zugfahren

Nach diesem Erlebnis habe ich alle Fahrer im Winter immer ein bisschen hysterisch gefragt, ob sie auch Winterreifen drauf haben. Vermutlich haben die mich dann für ein bisschen sehr seltsam gehalten, aber Mitfahrgelegenheiten im Winter sind seitdem verbrannte Erde.
Ich hoffe, unser Fahrer hat seine Überzeugung nochmal gründlich überdacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass das Wort Winter in Winterreifen eine Bedeutung hat. Wenn nicht, dann hoffe ich, dass er bei seinen idiotischen Fahrten zumindest keine Mitfahrer mehr mitnimmt.
An Weihnachten hab ich mir dann eine total überteuerte Zugfahrkarte gegönnt. Der Zug hatte wegen dem plötzlichen und unvorhersehbaren Wintereinbruch etwa 90 Minuten Verspätung, aber wenigstens können Züge nicht im Graben landen.

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