Oberflächlichkeit Gesellschaft Heuchelei

Die unehrlichste aller Fragen: „Wie geht’s dir?“

Sie wirken warmherzig, offen, aufgekratzt – und lassen doch kaum jemanden an sich heran. Die Frage „How are you?“ wird konsequent mit „Fine, thank you!“ beantwortet – auch wenn das in 90 Prozent aller Fälle mit Sicherheit nicht zutrifft. Amerikanische Oberflächlichkeit ist nicht nur ein Klischee, dessen sind wir uns hier zulande schon lange sicher. Deshalb fühlen wir uns diesen „herzlichen Heuchlern“ auch ziemlich überlegen, müssen wir andere Menschen doch nicht aus reiner Höflichkeit mit Komplimenten überhäufen oder im Gespräch auf nichtssagende Floskeln zurückgreifen. Ach ja, müssen wir das nicht? Sind wir hier wirklich und wahrhaftig am Wohlbefinden eines Menschen interessiert, wenn wir ihn danach fragen?

Wohl kaum. Und jeder, der etwas anderes behauptet, ist der größte Heuchler von allen. Denn die Frage „Wie geht es dir?“ steht dem amerikanischen „How are you?“ mittlerweile in nichts mehr nach –  Fast automatisch entgegnen wir da mittlerweile „Gut“, „ganz ok“ oder „passt schon“. Damit sind wir auf der sicheren Seite, wissen wir doch ganz genau, dass unser Gegenüber nicht wirklich an unserem Wohlergehen interessiert ist und mit zu viel Information oder gar Herzschmerz völlig überfordert wäre. Mehr als ein kleines bisschen an der Oberfläche zu kratzen erlaubt uns der höfliche Smalltalk nun mal nicht. Und obwohl wir tief in unserem Inneren wissen, dass das völlig absurd ist, halten wir an diesem verqueren gesellschaftlichen Konstrukt fest. Wir fragen, obwohl es uns nicht interessiert.

 

Ehrliche Antworten machen uns Angst

 

Genau deshalb empfinden wir zufällige Begegnungen mit Bekannten oft als seltsam: Schon unsere erste Frage hinterlässt einen faden Beigeschmack, weil in der kurzen Antwort unseres Gegenübers zu viel Unausgesprochenes mitschwingt – und uns doch einiges daran hindert nachzufragen. Noch viel seltsamer fühlt sich jedoch der Antwortende, der „Gut, danke“ sagt und dabei oft bewusst lügen muss.

Eigentlich sollte man den Spieß einfach mal umdrehen und tatsächlich wahrheitsgemäß antworten. Was wohl würde wohl passieren, wenn ihr einem flüchtigen Bekannten auf die Frage „Na, wie geht’s?“ mit „Ehrlich gesagt ziemlich beschissen. Mein Leben ist gerade einfach nur deprimierend.“ antwortet? Die meisten würden wohl völlig geschockt „Oh, krass. Aber warum denn?“ stammeln, um dann entsetzt festzustellen, dass sie sich mit dieser Nachfrage nur noch weiter in die Scheiße reiten. Später ärgern sie sich dann vor allem über eure unverfrorene Offenheit. Dabei waren sie es doch, die sich unbedingt nach eurem Befinden erkundigen mussten. Wenn so viele Menschen die Antwort auf diese eine Frage eigentlich gar nicht hören wollen, warum stellen sie sie dann immer wieder? Lasst es doch einfach bleiben.

 

„Geht es dir gut?“

 

Ein bisschen komplizierter verhält es sich wiederum bei der abgewandelten Form „Na, geht es dir gut?“. Viele empfinden diese Frage als noch höheren Gipfel der Grausamkeit, weil einfach davon ausgegangen wird, dass es dem anderen gut geht und die Option „Nein, mir geht es schlecht“ von vornherein ausgeschlossen wird. Doch das ist reine Ansichtssache: Manchen freuen sich sogar darüber, weil sie gleichzeitig Wunsch und Aufforderung ist, das Schöne zu sehen und das Gute im eigenen Leben zuzulassen. Hoffentlich, hoffentlich ist sie dann aber auch wirklich ernst gemeint – und nicht wieder ekelhaft scheinheilig. Denn von überbordender Scheinheiligkeit haben wir doch wirklich genug.

Es scheint mittlerweile nämlich eine unausgesprochene Gesellschaftsregel zu sein, immer und überall so zu wirken, als wäre unser Leben einfach perfekt. Wir gehen in die Arbeit, machen gute Miene zum bösen Spiel, obwohl unser Körper die tagtäglichen Strapazen einfach nicht mehr aushält. Bis wir dann irgendwann zusammenklappen, Diagnose: Burn-Out. Und unser Umfeld ist entsetzt.

Auch auf Facebook oder Instagram präsentieren wir unser Leben in den strahlendsten Farben, posten Bilder vom Feiern oder aus dem Urlaub, immer peinlich genau darauf bedacht, unsere glücklichsten Momente mit der Welt zu teilen. Wir arbeiten hart daran, eine Fassade aufrecht zu erhalten, die so stabil gar nicht sein kann. Das soll nicht heißen, dass eine Welt voller glückseliger Menschen nicht schön wäre. Aber sie existiert nun mal nicht. Soll heißen: Es ist wichtig, dass es uns gut geht – aber ebenso unverzichtbar ist es, dass wir uns manchmal schlecht fühlen und das auch zeigen dürfen. Und dafür brauchen wir Menschen, die wirklich darauf achten, wie es anderen geht. Vor denen wir uns nicht verstecken müssen. Die die Frage so stellen, wie sie eigentlich gemeint ist, nämlich tiefgründig und aufrichtig interessiert: „Wie geht’s dir?“

 

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Bildquelle: unsplash.com unter CC 0 Lizenz