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Diagnose Paris-Syndrom: Eine Stadt allein macht nicht glücklich

Es sind Mädchen, meistens. Mädchen, die Haut so weiß wie ihre Apple-Produkte, Mädchen, die in schwarzen Strümpfen und kurzen Röcken herumspazieren und sich immer, wenn mal wieder so gar nichts läuft, vorstellen, wie sie eines Tages durch Paris laufen. Unbeschwert. Filmreif. Aber dabei laufen sie vor allem eines: Gefahr, ernsthaft zu erkranken. Diagnose Paris-Syndrom.
 

Paris-Syndrom: Von Schwitzen und Schwindel über Herzrasen bis zu Halluzinationen

 

Das Paris-Syndrom ist eine psychische Störung, die vorübergehend auftritt, wenn man mit romantisierten Erwartungen in die französische Metropole kommt und dann bitter von der Realität niedergeprügelt wird. Weil man sich nicht vorgestellt hatte, dass auch in seiner Traumstadt Dreck und Kippen auf den Straßen liegt, dass die Leute ruppig sind und barsch. 1986 diagnostizierte der in Paris lebende Psychiater Hiroaki Ota die ersten Patienten mit Pari shôkôgun. Die Symptome reichen von Schwindel und Schwitzen bis zu Herzrasen und Halluzinationen. Vor allem japanische Touristen sind davon betroffen – aber auch andere Träumer. Diese Mädchen zum Beispiel.

Sie studieren Kunstgeschichte oder Literaturwissenschaft und kommen für ein oder zwei Semester nach Paris. Sie stellen sich vor, wie sie auf den Spuren von Hemingway und Renoir wandeln und Espresso aus kleinen Tassen trinken. Dort angekommen, sehen sie jedoch nicht nur den Eiffelturm, sondern auch den im Rinnstein schlingernden Abfall darunter, auch in Paris ist der Märzwind kalt, täglich fliehen sie vor aufdringlichen Männern. Schmecken Bitterkeit im viel zu starken Kaffee und zahlen dafür auch noch sechs Euro fünfzig. Gut, ich gebe es zu: Ich bin eine von ihnen. Nur eben ganz anders. Mein einziges Apple-Produkt ist grau, zum Beispiel. Außerdem wurde ich noch nie von Paris enttäuscht.

 

Die Grammatik des urbanen Raums, oder: Wieso du der Stadt scheißegal bist

 

Wir leben in Zeiten, in denen Heimatgefühl wieder engere Kreise zieht. Zeiten, in denen man sich mehr als Münchner oder Kölner fühlt, denn als Deutscher: Lokalpatriotismus weht statt der Flagge von Nationalstolz durch die Gesellschaft. Um so etwas wie Charakter zu schaffen, werden Alleinstellungsmerkmale eines geografischen Raumes gesucht, gefunden und dann so lange poliert, bis Außenstehende von ihnen geblendet werden und eine Metropole fortan nur darauf reduzieren. Die Grammatik einer Stadt scheint plötzlich ganz banal: Paris ist nur Sacre Cœur und Amélie Poulain, New York nur Times Square im Dschungel der Möglichkeiten. Allmählich konstruiert sich eine urbane Identität, die es so eigentlich nicht gibt.

Und diese Differenz zwischen dem Image und der wahren, immer fluktuierenden und eigentlich nie greifbaren Identität einer Stadt ist der Graben, in den enttäuschte Träumer und Touristen fallen. Viele Menschen kommen irgendwohin und glauben, inmitten der Gassen und Gebäude lösen sich ihre Probleme von selber, denken, ihre Sorgen würden vom Lärm der Taxen und herumbrüllenden Kellner einfach verschluckt.

Das Problem ist nur: So funktioniert Identität nicht. Der Stadt ist scheißegal, wo du bist. Egal, wer du bist. Urbane Identität ist eine heikle Angelegenheit, glauben doch viele, sie errichtet sich einfach von selbst, zusammen mit den Straßennetzen und Trambahnlinien. Aber vielmehr ist die Stadt ein Sehnsuchtsort. Ein Projektionsraum für Träume, in Beton gegossen. Ein Wohnraum, ja, oft vielleicht ein besonders schöner, aber immer ein starres Konstrukt. In erster Linie ist die Stadt nämlich nicht mehr als das: Platz zum Essen, Schlafen, Leben. Der urbane Charakter zittert innerhalb dieser Mauern, ist aber so flüchtig, dass man sich zumindest in Paris irgendwann mal die Frage stellen sollte: Sein(e) oder nicht Nichtsein?

 

Melancholie kennt keine Banlieues

 

„Geld allein macht nicht glücklich“, sagte Marcel Reich-Ranicki einmal. „Aber es ist besser, in einem Taxi zu weinen als in der Straßenbahn“. Und das ist auch der Haken an urbaner Identität: Zu oft hängt man sich an abstrakten Dingen auf, von denen man denkt, sie seien der Schlüssel zum Glück, wie Geld oder Göteborg. Metaphorisch gesehen sind sie das vielleicht sogar – aber aufsperren muss man schon selbst. An einer Stadt scheitern meistens die, die sich darauf verlassen haben, dass ein einfacher Standortwechsel schon alles reißen wird.

Und so geht es vielen mit Paris. Sie bündeln all ihre Hoffnungen auf etwas, das im Kern eigentlich nicht mehr ist als Ballungsraum, ein so dichtes wie schlichtes Netz von Häusern und Wegen, und glauben, dass sie dort die selbst erdachte Identität anlegen können wie einen neuen Mantel. Stellen sich vor, dass sie mit dem ersten Schritt in Montmartre ihre lästige Persönlichkeit abstreifen und endlich so sein können, wie sie immer sein wollten. In Paris kann man nicht traurig sein, denken sie. Aber das ist natürlich Selbstbeschiss. Melancholie kennt keine Banlieues.

Und trotzdem, auch wenn das so abrupt inkonsequent erscheinen mag, kann eine Stadt am Ende doch irgendwo glücklich machen. Nicht weil sie alles oder zumindest einen selbst verändert, auch nicht, weil Ängste einfach an ihr abprallen. Probleme pfeifen auf Arrondissements. Aber weil lebensbedingte Scheiße an manchen Orten einfach leichter zu ertragen ist. Orte zum Beispiel, in denen es, wenn es hart auf hart kommt, immer noch Käse gibt, der auf der Zunge schmilzt und Rotwein ohne Kater. Eine Stadt allein macht nicht glücklich. Aber vielleicht ist es besser, in Paris zu weinen als in Pirmasens.

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Bildnachweis: Angel Escartin Casas unter cc by-sa 2.0