Wohngemeinschaft Probleme

Die Utopie der perfekten Wohnung

Sobald die Koffer und Kisten ausgepackt sind, hast du das Schlimmste hinter dir. Nach dem Umzug in die frisch eroberten fünfzehn Quadratmeter soll alles besser werden. Die Mitbewohner sind cool, die Lage der Wohnung ist nicht zu toppen, alles perfekt – denkst du, denn: irgendwas is‘ immer. Und bevor du weiterhin glaubst, dass das Leben ein Ponyhof ist, sind hier drei Beispiele, die dir ein böses Erwachen ersparen können.

 

Let’s talk about…

 

Eigentlich ist es doch so schön: das gemeinsame Kochen, die Fernsehabende, das Befolgen des ungeschriebenen Feiergesetzes – viel Alkohol, wenig Denken, großer Kater am Tag danach. Ein Leben in einer WG hat so viele Vorteile, dass es das sich stapelnde Geschirr im Spülbecken überwiegt. 2014 lebten rund 4,22 Millionen Deutsche in einer Wohngemeinschaft. Da teilt man sich so einiges – vom Kühlschrankinhalt und Putzmitteln bis hin zu Lästereien über die seltsam-nervigen Nachbarn. Die Suche nach einer WG, in der man sich wirklich wohl fühlt, kann eine Ewigkeit dauern. Hat man sie endlich gefunden, ist die Perfektion der neuen Wohnsituation bloß eine weitere Utopie, die sehr leicht zerstört werden kann.

In der Welt der Großen und Mächtigen gibt es wechselnde Lieblingsthemen, bei denen sich die Politiker gegenseitig vom Podium stoßen, um ihre konstruktiven und weniger konstruktiven Beiträge beklatschen zu lassen. Homosexualität, Gleichberechtigung, Umwelt, Flüchtlinge – aus dem Flatscreen und den Zeitungsartikeln purzeln diese Themen auch in das WG-Refugium und stoßen Diskussionen an, die man so vielleicht lieber nicht geführt hätte. Denn plötzlich fragt man sich – mit wem lebe ich da eigentlich zusammen?

Da können ungeschönte Aussagen daherkommen wie „Nee, mein Kind spielt mal nicht mit Puppen, dann könnte es ja schwul werden.“ Oder zum Thema Flüchtlinge: „Die Osteuropäer sind die schlimmsten – bevor die mit der ganzen Kohle abhauen, bringen sie dich noch um.“ Da steht der eine ein bisschen weiter rechts, während der andere Mitbewohner sich nach links lehnt – und der dritte, der sich bei dem „Eins, zwei oder drei“-Spiel für die Mitte entschieden hat hofft, dass die Diskussion nicht in einer Schlägerei endet. In so einer Situation rät die Regensburger Psychologin Gela Fischer dazu, erst einmal Grenzen abzustecken. „Meinungsverschiedenheiten kann man besprechen“, sagt sie, „man sollte aber klar kommunizieren, wo für einen die Kompromissbereitschaft endet.“ Die Streitereien sollten mit Ich-Botschaften geführt werden, Vorwürfe wie „DU siehst das doch ALLES völlig falsch“ helfen wenig weiter. Letztendlich gibt es Positionen, von denen niemand abrücken will. Geht die pazifistische Taktik nicht auf, bleiben eben nur zwei Wege offen: Entweder geht man sich aus dem Weg oder man würfelt eine neue WG-Konstellation zusammen.

 

Brrrrrrrrrrrrrrrmmmmmkrrrrchchhhratatata…

 

Und dann, wenn in der WG endlich wieder (Schein-)Frieden eingekehrt ist, ist da plötzlich dieser Lärm. Direkt unter deinem Fenster ist eine Baustelle aus dem Boden geschossen, die pünktlich vor Sonnenaufgang anfängt und erst dann verstummt, wenn du mit Ohrstöpseln herumläufst. Straßenarbeiten, Renovierung, Rasenmäher – es sind alles unvorhersehbare Dinge, die zwar schon ihren Sinn haben, aber einem unfassbar auf den Sack gehen. Von in der Früh bis spät abends mit dem Gehämmere zu leben, lässt einen schier verzweifeln.

Lärm ist schädlich für die Gesundheit. Das weiß auch das Umweltbundesamt: „Der Körper schüttet vermehrt Stresshormone aus, die ihrerseits in Stoffwechselvorgänge des Körpers eingreifen. Die Kreislauf- und Stoffwechselregulierung wird weitgehend unbewusst über das autonome Nervensystem vermittelt. Die autonomen Reaktionen treten deshalb auch im Schlaf und bei Personen auf, die meinen, sich an Lärm gewöhnt zu haben.“ Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Stress. Es ist ziemlich unschön, was da mit der Baustelle vorm Haus einherkommt. Das Einzige, was hilft: raus aus der Wohnung und erst bei Einbruch der Nacht wiederkommen. Wenn überhaupt. Oder wahlweise Yoga-Kurse besuchen. Oder eben den Stecker ziehen.

 

Teuflische Nachbarn

 

Dann, nach Wochen schlafloser Nächte, ist die Baustelle endlich und endgültig in die nächste Straße abgezogen. Ruhe kehrt ein. Aber nach dem Verschwinden der Lärm produzierenden Geräte taucht ein neues Problem auf: die frisch eingezogenen Nachbarn. Dein neu gewähltes Nest kann durch ungemütliche Nachbarn zum fragwürdigen Paradies auf Erden werden. Das nur mäßig freundliche Ehepaar im mittleren Alter im Stockwerk über der eigenen WG kann nicht nur das Hineinfeiern in den Geburtstag mit einem Anruf bei der Polizei um 0.01 Uhr beenden, sondern auch durch eine aufgedrehte Dolby Surround Anlage dafür sorgen, dass man trotz fehlendem Fernsehgerät im eigenen Zimmer mitbekommt, was um 22.15 Uhr auf RTL II läuft.

Marc Baumann von der Süddeutschen Zeitung erfasst unser Bienenwabenleben durch zwei einfache Feststellungen: „Die Illusion ist so gut, dass man sich allein im Zimmer einsam fühlen kann, dabei lehnt der Nachbar seinen Hinterkopf in dem Moment vielleicht an dieselbe Wand. Wenn abends die Lichter angehen im Wohnblock gegenüber, sieht man diese Nähe durch die erleuchteten Fenster: wie zwei Menschen direkt übereinanderstehen.“ Ist das Buch „Zusammen ist man weniger allein“ von Anna Gavalda ein richtig gelungener Beweis dafür, wie wichtig es ist, alles zu tun, um nicht zu vereinsamen, trifft das weniger auf die unfreiwilligen, da nicht kompatiblen und dennoch zusammengepferchten Menschen in einem Wohnhaus zu – hier ist man zusammen eben weniger ungestört.

Normalerweise handelt es sich aber bei solchen Wohnsituationen noch um vergängliche Lebensabschnitte. Dann, wenn wir das Studium oder den ersten, unterbezahlten Job hinter uns lassen, wenn wir unseren inneren Spießer entdecken und unsere Kisten und Koffer ein weiteres Mal packen und in ein Häuschen aufs Land ziehen, ja dann können wir uns erneut der Illusion hingeben, einen perfekten Unterschlupf gefunden zu haben. Bis schließlich der kleine Kläffer von nebenan anfängt, in unserem Garten sein Revier zu markieren. Und wir ihn von da an immer zu dem freundlich grinsenden Nachbarn zurückbringen müssen, der ihm dann zufrieden über den Kopf streichelt. Irgendwas is‘ eben immer.

 

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Bildquelle: Anonymous_Bosch unter CC BY 2.0