Plädoyer fürs Loslassen

Lass‘ doch mal los! Vom Bleiben und bleiben lassen

Von Judith Strieder

„Wer loslässt, hat die Hände frei“, sagt sich so leicht, klingt so befreiend. Das Thema – Loslassen – um das es geht, beschäftigt unsere Generation zur Zeit ungefähr so intensiv wie die neueste Version von Pokemon Go. Es beschert uns meistens aber eher ein paar schlaflose Nächte als nur freie Hände. Fragen wir uns nun, warum uns loslassen und festhalten so schwer fällt und sich beides trotzdem lohnt.

 

Frühkindliche Bindungsmuster

 

Ja, wo kommt denn das eigentlich her? Dieses Verhaltensmuster, diese Angst, die wir ja (fast) alle gut genug kennen, diese Entscheidungsschwierigkeiten, die uns plagen, wenn wir vor einer möglichen Veränderung stehen oder geneigt sind, doch lieber da zu bleiben, wo es gerade warm und gemütlich ist, in unserem Nestchen. Sei es die alte Heimatstadt, in der wir immer noch wohnen, weil wir dort eigentlich alles haben, was wir brauchen – auch wenn wir uns täglich halb tot langweilen. Oder eine irgendwie höchstens halb gute Beziehung, die uns reicht, um nicht einsam zu sein, aber uns nicht erfüllt. Eine, die uns spätestens genügt, um den ungeliebten Sonntagsblues am Ende der Woche nicht in Weltschmerz ausarten zu lassen.

Natürlich – wie soll es anders sein – finden wir eine Erklärung in einem unserer durch Urinstinkte verankerte Grundbedürfnisse, nämlich nach Bindung. „Ein Baby greift nach unserem Finger, nach unserem Gesicht, schmiegt sich an“, weil es sich alleine noch nicht versorgen kann, weiß Katharina Ley, Psychoanalytikerin und Soziologin. Und irgendwie ändert sich mit dem Erwachsenwerden wie immer gar nicht so viel, wie man denkt. Sicherheit bleibt uns dieses Grundbedürfnis, nach dem wir uns sehnen – egal wie alt wir werden. „Wann immer im Leben Angst auftaucht, aktiviert das unser Bindungssystem“, stellt der Münchner Psychiater und Bindungsforscher Karl Heinz Brisch fest. Genau diese Angst begegnet uns, wenn wir was Neues wagen. Oder dies zumindest vorhaben.

 

Gewohnheit als Droge

 

Aber auch auf der Suche nach einer handfesten Erklärung, einer logischen Antwort auf unser wirres Denken, die nicht auf der Basis psychoanalytischer, vielleicht schwer nachvollziehbarer Gründe steht, wird man fündig. Das Gehirn mag Routine. Neues zu verarbeiten kostet uns Unmengen an Zucker und Sauerstoff und versetzt uns in entzügige Zustände. Gewohnheiten im Gegensatz dazu schütten körpereigene Opiate aus. Jeder, der sich ansatzweise vorstellen kann, was das bedeutet, kann nachvollziehen, dass sich das gut anfühlt. Man muss also nicht nur den Schritt gehen, was zu wagen, sondern verzichtet damit zusätzlich noch auf den gehirneigenen Bonus, den wir sonst gewohnt sind, so Neurobiologe Gerhard Roth. „Das Gefühl von Wert- und Haltlosigkeit bei einschneidenden Veränderungen (…) aktiviert die gleichen Areale im Gehirn wie körperlicher Schmerz.“

Unser Gehirn schüttet in dieser (als unangenehm erlebten) Phase des Umbruchs den Botenstoff Substanz P aus – P steht für pain. Belohnt werden wir erst langfristig, aber das wissen wir zu dem Zeitpunkt ja leider noch nicht. Erlerntes Bindungsverhalten. Genauso sehr wie uns unser Gehirn, unsere Genetik und unsere evolutionär bedingte Entwicklung prägt, lernen wir durch die Erfahrungen, die wir machen. Unser Urvertrauen entwickeln wir als Babies und Kleinkinder. Oder auch nicht. Je traumatischer Trennungen von geliebten Menschen in unseren ersten Lebensjahren verliefen, desto mehr fürchten wir das Elend, das mit einer Wiederholung verbunden sein könnte. Auch wenn es erst einmal paradox klingen mag, fallen Menschen, die sich in dieser Lebensphase geschützt fühlten, Ablösungsprozesse leichter.

Je sicherer der Hafen, desto sorgloser die Reise. Brisch beschreibt dies so: „Bindung und Neugier sind gekoppelt, das eine geht nicht ohne das andere.“ Ständig streben wir nach dem Optimum, der perfekten Beziehung, dem Traumjob. Aber alles Mögliche, was wir bekommen könnten, erscheint uns erst einmal unattraktiver als das, was wir schon sicher haben. Es sei denn, wir vertrauen durch positive Erfahrungen darauf, dass die Veränderung nur Gutes mit sich bringt.

 

Sensation seakers: Warum es sich lohnt (auch mal) loszulassen

 

Menschen, die uns daran erinnern, dass Neubeginn glitzert, Anfänge Zauber in sich tragen, haben in der Wissenschaft einen eigenen Namen bekommen. Ein kleiner Teil unserer Gesellschaft, 20 Prozent etwa, aka sensation seakers haben genetisch bedingt mehr Spaß am Neuen. Diese Menschen sind ständig auf der Suche nach Aufregung. Sie lieben den Kick und finden diesen oft in Glücksspielen oder gefährlichen Sportarten. Vielleicht reicht es uns Normalos ja nicht gleich ein sensation seaker zu werden, aber manchmal einmal mehr als sonst in Erwägung zu ziehen, unsere Komfortzone zu verlassen. Nur so als Inspiration.

 

Festhalten – loslassen

 

„Eine Hand, die mich loslässt, kann ich nicht festhalten“. Aber eine Hand, die ich nicht (mehr) festhalten möchte, sollte ich frei lassen. Das Festhalten und das Loslassen funktioniert nur miteinander und erfüllt nur im Ausgleich. Nur wer festhält, kann loslassen und beides kann sowohl Gewinn als auch Erleichterung sein. Deshalb scheint es so wie mit Vielem. Die goldene Mitte ist die Schönste. Irgendwo zwischen Sicherheit und Abenteuer, Leichtsinn und warmer Vernunft. Weil irgendwie ja doch nichts für immer ist, sich aber manchmal so anfühlt. Und wenn es sich gut anfühlt, dann lohnt es sich festzuhalten und wenn es sich vor allem sicher anfühlt, sollte man vielleicht wagen loszulassen, um seine Hände frei zu haben, um nach etwas Neuem zu greifen. Und ein besonders beruhigendes Abschlusswort hat zum Glück noch Karl Heinz Brisch parat: „Unser Bindungssystem bleibt immer offen für neue, sichere Bindungserfahrungen, weil sie das sind, was wir suchen“. Gut, lassen wir das so stehen. Danke, Brisch.

Folge ZEITjUNG auf FacebookTwitter und Instagram!

Bildquelle: via Pexels/CC0 Lizenz