Die kleine Schwester von scheiße - Ein Selbstversuch im Nett-Sein

Die kleine Schwester von Scheiße: Ein Selbstversuch im Nett-Sein

Von Saskia Ziegler

„Das ist doch die kleine Schwester von scheiße“, ist wohl so ziemlich das erste, was einem zum Wörtchen ‚nett’ einfällt. Wer zu nett ist, zieht ja den kürzeren, heißt es, und in der Schleimer-Schublade ist man auch ganz schnell. Nett sein, das könne ja jeder. Achja? Und wieso macht es dann keiner? Gute Frage. Ich mach’ das jetzt einfach mal. Ein Selbstversuch.

Okay, keiner ist übertrieben. Bitte, danke, hallo und auf Wiedersehen ist meistens schon drin. Aber so ein kleines Kompliment oder wenigstens ein Lächeln zwischendurch hat doch auch noch keinem geschadet. Das Gehirn ist uns dabei einen Schritt voraus – schließlich denken wir uns jede Menge, wenn wir jemandem gegenüberstehen oder einer an uns vorbeiläuft. Sätze wie „Himmel, was hat die denn an“ oder „Was für eine hässliche Tasche“ fliegen gerne mal zwischen den Ohren hin und her – aber die können wir gerne für uns behalten. Mindestens genau so oft denken wir Positives über andere. Aber sagen? Nee, das wäre ja jetzt auch komisch. Das kommt bestimmt irgendwie blöd rüber und, oh, jetzt ist die Gelegenheit schon wieder vorbei, naja! Woran das liegt, weiß Wolfgang Krüger, Psychotherapeut und Buchautor aus Berlin. „Das ist ein kulturelles Problem. Wir sind in Europa grundsätzlich sehr verhalten, was Emotionen betrifft. Bei uns kritisiert man lieber. Gehen Sie mal in die arabischen Länder, da ist man regelrecht verschwenderisch mit Anerkennung und blumigen Bemerkungen.“

 

Der Tsunami der guten Laune

 

Das habe ich jetzt auch mal ausprobiert. Einfach raus mit den Komplimenten, egal wann und wo, egal an wen. Mit diesem Vorsatz bin ich vor die Tür – und war kurz darauf fast schon aufgeregt. Da kam mir eine Frau in einem wunderschönen hellblauen Mantel entgegen, der perfekt zu ihren langen dunklen Haaren passte, aber sag’ ich ihr das jetzt wirklich? Zack, vorbeigelaufen. So ging es mir bei zwei, drei Begegnungen. Mut, wo bist Du? Ist doch nix dabei! Dann war da dieser Typ, Vollbart, Surfbrett unterm Arm, er auf dem Radl, ich auf dem Radl, der sollte es sein. All meinem Mut habe ich zusammen genommen und ihm mein sonnigstes Lächeln geschenkt. Einfach so. Und er? Grinst zurück und zwinkert mir zu – schon eine Sekunde später sind wir aneinander vorbei.

Was bleibt, ist ein regelrechter Tsunami guter Laune, der mich ohne Vorwarnung überrollt und in einem breiten Lächeln brandet, das mich noch die nächsten paar hundert Meter begleitet. Wie einfach das war! Im Park gleich der nächste Versuch. Eine Frau mit einem schwarzen mittelgroßen Hund, sieht nett aus, ich lächle sie an. Sie lächelt zurück und schiebt sogar ein freundliches „Hallo“ hinterher. Und wieder nimmt mich dieses Glücksgefühl in seine Arme und schleudert mich in Richtung Himmel. Dabei kenne ich diese Frau noch nicht mal.

 

Nett-sein sorgt für einen happy Hormonhaushalt

 

Das muss dann wohl dieses Oxytocin sein. Das „Kuschelhormon“, ein Stoff, der vom Gehirn bei Prozessen wie der Geburt oder Sex ausgeschüttet wird, also wenn wir Bindungen eingehen. Es schafft Liebe und Vertrauen – ein Hormon, das happy macht. Es senkt den Blutdruck, löst Ängste und schenkt uns ein längeres, glücklicheres Leben. Genug Gründe, etwas dafür zu tun, dass es ausgeschüttet wird, oder?

Also schreibe ich meiner Nachbarin, die ich im Hausflur getroffen habe, eine kurze Whatsapp-Nachricht: „Deine Frisur heute steht Dir richtig gut!“ Reagiert hat sie mit Smileys mit Herzchen in den Augen – hat ihr offenbar gut getan, das Kompliment. Solche Schmeicheleien sind sogar lebensnotwendig, weiß der Psychologe: „Ich brauche diese Spiegelung durch einen anderen, der mir sagt, was das Besondere an mir ist.“

 

Die Jäger waren doch auch nett zu den Sammlern

 

Doch woher kommt diese Tendenz, nett zu anderen Menschen zu sein oder gar Komplimente zu machen? „Eine Erklärung ist Handel“, so der Evolutionsbiologe Richard Dawkins. „Menschen sind darauf angewiesen, zu tauschen. So entwickelten sie einen feinen Sinn für Schuld und Dankbarkeit. Und nicht zuletzt achten sie auf ihren guten Ruf.“ Was entstand, ist ein „Gefühl der gegenseitigen Verpflichtung.“

Der Evolutionsforscher Arne Traulsen spricht von Kooperation, und zwar schon zu Zeiten der Jäger und Sammler: „Wenn ich wiederholt immer wieder mit der gleichen Person interagiere, dann macht das natürlich ganz viel Sinn, dem heute zu helfen, dann hilft der mir morgen auch.“ Und: Laut mehreren Studien sind Menschen, die sich für andere einsetzen, nicht nur zufriedener und gesünder als Egoisten, sondern leben sogar länger.

 

So schwer ist es nicht

 

Aber so logisch und einfach das auch klingt – im Alltag macht man das halt einfach nicht. Man hat Angst, schief angeschaut zu werden oder den anderen in Verlegenheit zu bringen. Kritik ist in unseren Breitengraden ja immer noch üblicher als Nett-sein. Aber je natürlicher und ehrlicher ein Kompliment ist, desto weniger Unbehagen verursacht es auch beim anderen.

Das muss ich ausprobieren! Als ich in der Münchner Innenstadt unterwegs bin, ist es Zeit für den Ernstfall. Lächeln und Whatsapp reichen nicht –live und in Farbe muss es passieren. Als ich, großer Ohrring-Fan, eine junge Frau mit Dominosteinen an den Ohrläppchen sehe, schießt es aus mir raus: „Ich muss Dir das jetzt einfach sagen: Deine Ohrringe sind echt toll!“ Ihre Reaktion? Sie lächelt von einem Dominostein zum anderen, bedankt sich und geht wahrscheinlich genauso beschwingt ihres Wegs wie ich.

 

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Bildquelle: Llywelyn Nys via unsplash.com