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Reisen war gestern: Warum wir überall gelebt haben müssen

Manchmal glaube ich, in einer Gesellschaft und einer Generation zu leben, in der es als größtes Versagen gilt, nicht vom Fleck zu kommen. Buchstäblich. Fast alles wird heutzutage verziehen, in einer sich fast manisch gebärdenden Würdigung des Scheiterns; was aber nicht geht, ist nie zu gehen, nirgendwohin. Einfach in der Stadt oder – Gott bewahre! – in dem Ort zu bleiben, in dem man schon immer war. Man muss sich doch ausprobieren. Früher ging man dafür zum Friseur oder zog sich um, heute zieht man nach New York.

 

Eine neue Stadt zwingt uns zu Boden – und von da aus neu anzufangen

 

Während ich schreibe, geht mein Blick nach links. An der Wand hängt eine gerahmte Stadtkarte, auf der einzelne Polaroids kleben wie Monumente, darunter wird die nackte Grammatik eines Raumes erkennbar: Straßennamen, Plätze, Brücken. Es sind Erinnerungen an eine Stadt, die mir passt wie ein gut geschnittener Mantel. „Ich hatte das Gefühl, dort die beste Version meiner Selbst zu sein“, sagte meine Freundin letzte Woche über ihre sechs Monate in New York und rührte in ihrem Kaffee. Damit hat sie dieses Gefühl ziemlich gut beschrieben – wenn man auf der Suche nach sich selbst ist und sich dann unter einem Bierdeckel in der schäbigsten Bar einer fremden Stadt zu finden glaubt. Ich glaube, jeder hat so eine Karte, so einen Ort. Und manchmal fahren wir, auf Papier oder in Gedanken, die Linien dieser Karte nach und spüren unter unseren Fingern die Geographie eines anderen Selbst.

Denn jeder Ortswechsel bedeutet für uns die Chance, an unserer Identität herumzuschrauben. Und ich glaube, genau daher rührt unsere beinahe obsessive Sehnsucht nach Standortwechseln. Wer sich vollständig angekommen fühlt, in dem brennt dieses Verlangen vielleicht nicht so fordernd, aber wer ist das in unserem Alter schon. Patrick Devine-Wright lehrt an der University of Exeter im Südwesten Englands Humangeographie und beschäftigt sich mit der Frage, wie Raum die Persönlichkeit prägt. Das Phänomen des häufigen Reisens und Wohnwechsels sei typisch für das Alter der Zwanziger, in denen wir versuchen, uns selbst und einen Platz in der Welt zu finden, erklärt er mir. Das sei schon immer so gewesen – „neu ist vielleicht die Unkompliziertheit, mit der wir heutzutage weit und billig reisen können“, merkt er an.

 

Weniger die Frage nach dem Wo, als nach dem Wer

 

Eine neue Stadt prägt uns allein schon, weil sie neue Strukturen aufmacht, in denen wir uns einrichten müssen, neue Gebäude, neue Abläufe, neue Gesichter. Sie zwingt uns erst zu Boden – und dann, von da aus nochmal neu anzufangen. Und manchmal fühlt sich das fast an, als könnte man dabei einem neuen Ich beim Wachsen zusehen.

Hinzu kommt, dass jede Stadt schon von allein eine Art urbane Identität trägt, die irgendwo, unsichtbar und konstruiert in den Straßen hängt wie ein latenter Wolkenkratzer. Die Entscheidung für einen bestimmten Ort sagt also etwas über unsere Persönlichkeit aus –  allein schon die Entscheidung, einen anderen Ort aufzusuchen, flüstert: Ich will mich verändern. Das Ganze ist weniger die Frage nach dem Wo, als eine nach dem Wer willst du sein. „Ein Ort kann als Fundament dienen“, sagt Patrick Devine-Wright – „Wenn du jemanden kennenlernst, fragt er als Erstes wahrscheinlich, was du machst und wo du herkommst. Örtlichkeit war schon immer ein wesentlicher Weg, um herauszufinden, was für eine Person der Andere wohl sein mag.“

 

You can’t get away from yourself by moving to another place

 

Wenn wir also das Gefühl haben, ein Raum lässt uns nicht sein, wie wir sein wollen, bewegen wir uns fort, nach dem Abi, vor dem Master oder mitten in einer Sinnkrise – und suchen den Ort auf, von dem wir denken, dass er das Fundament für unsere Veränderung sein kann. Und doch löst ein Umzug nicht alle unsere Probleme, und wir selbst lösen uns auch nicht auf wie ein Knoten, den man neu schlingen kann. Es gibt sogar einen medizinischen Begriff für die Enttäuschung von Träumern und Touristen, die von einer Stadt alles und zu viel erwartet haben: Es heißt Paris-Syndrom und hat unschöne physische Begleiterscheinungen wie Schwindel, Übelkeit und Herzrasen. Und auch wenn er in A Moveable Feast sein Leben in Paris beschreibt wie er es auf Kuba wahrscheinlich nicht leben konnte (und andersherum), schrieb der große Hemingway einmal: „You can’t get away from yourself by moving to another place“. Denn ein Ort kann und wird dich nicht verändern. Vielleicht ist er eher der neue Mantel, der das hervorbringt, was wir im Morast unseres Daseins verschüttet glaubten. Doch am Ende bleibt die Erkenntnis: Der einzige Ort, aus dem wir nicht ausziehen können, ist unsere eigene Haut.

 

 

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Bild: Gonzalo Díaz Fornaro unter cc by-sa 2.0