Wie sollte man mit traumatischen Erfahrungen im Freundeskreis umgehen?

Die Klinik am See

 

Einen Monat später laufe ich also wieder durch Schnee. Dieses Mal durch richtigen, der knirscht und aussieht wie Puderzucker. Ich besuche Anna zum ersten Mal in der Klinik. Eine Stunde von München entfernt – und doch eine ganze Welt dazwischen. Eine Welt, in der Probleme auf Namen wie Uninoten oder Kontostand hören. Ich ziehe die Kapuze meines viel zu dünnen Parkas enger, während hinter mir der Bahnhof, der Anschluss an die Welt da draußen, immer kleiner wird und ich eine verlassene Straße entlang laufe, deren Laternen noch nicht an sind, obwohl die winterliche Dunkelheit sie langsam einhüllt.

Die Klinik steht direkt am See, sieht mehr nach Kurhotel als nach Krankenhaus aus. Im Foyer laufen zwei abgemagerte Mädchen in Bademänteln vorbei. Die eine sieht mir direkt in die Augen und ich kann nicht anders als zurückzugucken in die Traurigkeit ihrer Pupillen. Dass es hier auch eine Station für Magersüchtige gibt, wusste ich nicht. Ich sage Annas Namen und nachdem sie beim Anruf auf ihrem Zimmer nicht abhebt, sagt die Frau, ich solle sie doch einfach auf dem Handy anrufen. Ich brauche einen Moment, bis ich begreife. Ach ja, Handy, Außenwelt.

Ich warte auf einem Sessel im Flur, bis Anna mich abholt und frage mich, wie es ihr wohl geht. Ich weiß, dass ich nicht gut im Umgang mit dem Grausamen des Lebens bin. Also höre ich meinem Herz beim Klopfen zu und verschiebe mit meinem rechten Fuß einen winzigen Kieselstein zwischen den Rillen der Fliesen.

Plötzlich steht sie vor mir, lächelt mich an und umarmt mich. Ich rieche ihr Parfüm und flüstere ihr ein „Ich freue mich so, dich zu sehen“ in die noch ein wenig feuchten Haare. Wir gehen in ihr Zimmer, im Treppenhaus grüßt sie eine Frau im Trainingsanzug, die ich auf Mitte 40 schätze. Als sie die Tür hinter sich zuzieht und wir in dem winzigen Zimmer stehen, kommt mir ihre Freiheitsliebe in den Sinn. Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagt sie: „Nicht groß, aber glaub mir, ich fühle mich hier unfassbar wohl.“

 

Endlich wieder schlafen – und leben

 

Sie hat Zeichnungen an die Wände gehängt, die Innenseite der Tür ziert eine Collage. Anna, meine Künstlerin. Sonst: Bücher, zwei Briefe, die sie sich über ihren kleinen Schreibtisch gehängt hat, einige Fotos. Auf einem grinse ich in die Kamera, die Augen zu und neben Anna macht neben mir eine Grimasse. Ich wende den Blick ab und schaue in ihr echtes Gesicht, das in der Realität. Sie sieht gut aus. Und es geht ihr auch gut, sagt sie, wenn man das hier drin so sagen kann. Sie hat zwei sehr gute Freundinnen gefunden, genießt morgendliches Schwimmen im klinikeigenen Hallenbad. Die Therapie ist hart, aber sie hilft. Sie kann jetzt wieder schlafen. Und träumt sogar manchmal Schönes, von Glück oder einfach nur vom Gefühl von kühlem Wind auf der Haut.

Sie hört viel Musik, zeichnet, mag den Ausblick aus ihrem kleinen Fenster. Sie heilt hier, sagt sie. Und ich muss mir verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischen, weil es mich so freut, dass ein Mensch wie sie vielleicht nicht den Schmerz loswerden, aber immerhin lernen kann, langsam wieder zurückzufinden. Sich wieder an das Kindliche erinnern kann, die Begeisterung bei den kleinen Dingen im Leben. Natürlich gebe es auch schlimme Tage, dunkler als die langen Nächte. Aber dennoch: das Helle überwiege wieder.

Ich entkrampfe langsam, wir machen ein Glas saurer Gurken auf und essen sie mit unseren bloßen Fingern. Wir lachen sogar. So, wie wir es immer gemacht haben. Wir hören ein wenig Musik, reden über früher und über das Leben vor uns, obwohl ihr Therapeut gesagt hat, sie solle das nicht machen, weil das leicht überfordern würde. Wir malen uns aus, wie wir ans Meer fahren. Nur wir beide. Wie wir unter milchigem Himmel den Wellen beim Sprechen zuhören und die winzigen Sandkörner unter den Fußsohlen spüren. Und als ich durch den Schnee zurück gehe, frierend die Lichtkegel der Laternen betrachte, als ich in den Zug steige, aus dem Fenster blicke, hinaus ins dunkle Nichts, zu Hause, wenn ich die Wohnung aufschließe, mich setze und die Stille spüre, muss ich immerzu lächeln. Denn so schockiert ich im Nachhinein über das war, das Anna zugestoßen ist, so glücklich bin ich über den zarten Keim, den ich in der Klinik gesehen hab. Ein Keim, der eines Tages wieder sprießen wird und ihren Weg zurück ins Leben bedeutet.