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Eine Liebeserklärung an die musikalischen Jugendhelden

Von Dennis Melzer

Die Glühbirne, die traurig von der Decke des hoffnungslos überfüllten Kellers baumelt, müht sich tapfer, den kleinen Raum von seiner Dunkelheit zu befreien. Umzugskartons gestapelt, in der hintersten Ecke, vorne ein von Spinnenweben gezierter Beistelltisch, ein Fahrrad, das sicherlich schon bessere Zeiten gesehen hat, lehnt lässig an den Gitterstäben, nur darauf hoffend, mit ein paar Artgenossen auf dem Sperrmüll in Frieden sterben zu dürfen. Auf der Suche nach besseren Zeiten bin ich auch. Wo ist der Karton mit den CDs? Es hilft nichts, ich muss mich durchkämpfen, an nicht mehr funktionierenden Stehlampen und anderem ausrangierten Allerlei.

Endlich angekommen, stelle ich fest, dass die Lichtquelle ihren Kampf gegen die Finsternis verloren hat. In einer, aus anatomischer Sicht, unnatürlichen Körperhaltung, versuche ich mein, mit Taschenlampenfunktion ausgestattetes, Handy aus der Skinny Jeans zu ziehen, was wahrlich kein leichtes Unterfangen ist und denke für einen kurzen Früher-War-Alles-Besser-Augenblick daran, dass die guten alten Baggy Pants auch Vorteile hatten.

 

Der persönliche heilige Gral der jugendlichen Musikgeschichte

 

Das kalte, bläuliche Licht wandert an den Kisten vorbei: Bücher, Winterklamotten, Ordner, Küchenutensilien (kann unmöglich mir gehören), DVDs und ganz unten das Ziel meiner Kellerexpedition. Ein paar Verrenkungen und tetrisartigen Umbaumaßnahmen später, stehe ich in meinem Zimmer und öffne den dunkelbraunen, halbherzig mit Klebeband verschlossenen Deckel. Ich nehme jede Hülle einzeln heraus, prüfe, ob der Inhalt stimmt und lege sie beiseite. Transatlanticsim von Death Cab for Cutie, das aus meiner Sicht beste Album der Musikgeschichte, quasi mein persönlicher heiliger Gral, liegt ganz oben, darunter diverse überragende Nada-Surf-Platten, Oasis, The Shins, deren „Oh, Inverted World“ mein Leben ebenso nachhaltig veränderte, wie Bloc Partys „Silent Alarm“ und plötzlich „Hot Fuss“, das erste Schaffenswerk der Killers.

Ich betrachte das mit einem kleinen Sprung versehene Plastik und das Booklet, auf dem vier Hochhäuser mit asiatischen Leuchtlettern zu sehen sind. Erinnerungen an ewig lange Autofahrten durch laue Sommernächte, Alkoholexzesse in irgendwelchen selbstgebauten elterlichen Kellerbars und ein Konzert im Kölner Hinterhofschuppen „Underground“ kommen hoch. Als ich die CD in die Stereoanlage lege und die ersten Töne von „Jenny Was A Friend Of Mine“ aus den Boxen donnern, lege ich mich auf mein Bett und schließe die Augen.

 

Wo ist die jugendliche Unbekümmertheit?

 

Brandon Flowers’ entfernt-verzerrte Stimme, der pulsierende Bass und Synthesizer-Nuancen verbinden sich zu einem musikalischen Kunstwerk, bevor eine der größten Indie-Rock-Hymnen, „Mr. Brightside“, Bilder von Küssen auf sanfte, vor Lipgloss klebende Lippen hochkommen lässt. Ihre tiefen, haselnussfarbenen Augen, das lange dunkle Haar, der blumige Gucci-Envy-Duft, alles ist plötzlich wieder da und verschwimmt erst als „Andy You’re A Star“ in den letzten Zügen dahingleitet. Ich entscheide mich, noch etwas liegen zu bleiben, den Moment zu genießen und denke weiter zurück an die jugendliche Unbekümmertheit, die ich mit diesem Album verbinde, das schließlich mit dem hochtrabenden und selbstverliebten „Glamorous Indie Rock And Roll“ endet.

Bei aller Melancholie und der kurzfristigen Schönheit, noch einmal im Jahr 2004 gewesen zu sein, frage ich mich, was mit den Killers passiert ist. Klar, der Hot-Fuss-Nachfolger „Sam’s Town“ reichte zwar nicht an seinen Vorgänger heran, war aber mindestens solide. Die Hymnen wurden mehr, die kleinen Schätzchen weniger, der Lauf der Dinge, wenn eine Band einigermaßen berühmt wird. Was sich aber wirklich in mein Gedächtnis eingebrannt hat, war dieser eine unheilvolle Morgen: Meine Mutter, die – was Musik betrifft – glücklicherweise belehrbar ist und immerhin meinen abgrundtiefen Hass gegen James-Blunt-Schnulzen teilt, kam in mein Zimmer geeilt, wollte mich unbedingt daran teilhaben lassen, dass die Killers („die hörst du doch so gerne“) im Lokalradio gespielt wurden. Radio RSG (Remscheid-Solingen), die offizielle Plattform zur Verbreitung von Silbermond-, Milow- oder One-Republic-Gejammere, spielte die Killers? Noch im Halbschlaf wankte ich in die Küche und musste feststellen, dass meine Mutter zum Leidwesen aller Fans der ersten Stunde nicht gelogen hatte.

 

Wenn schon Abgesang, dann doch bitte bunt, schrill und mit vollen Taschen.

 

„Are we human, or are we dancer“, fragte Flowers, der – wie ich später beinahe traumatisiert hinnahm –  mit Adlerfedern geschmückt im dazugehörigen Video durch die karge Wüstenlandschaft Nevadas stolzierte. Wenn besagter Sender ein Lied einmal in seinen Fängen hat, dann lässt er es nicht mehr los, spielt es in Dauerschleife, nimmt keine Rücksicht auf seine Hörer, deren Ohren spätestens nach dem 31. Blunt’schen „You’re Beautiful“ des Tages, einen irreversiblen Schaden davongetragen haben.

„Human“ reihte sich nahtlos ein, war schnell ein fester Bestandteil des fürchterlichen Pop-Einheitsbreis und fiel zwischen Jennifer Lopez und Kylie Minogue irgendwann gar nicht mehr auf. Der schlimmste Fall einer Band seit Greenday auf dem Zerstörten-Träume-Boulevard erfolgreiche Kommerz-Gehversuche unternommen hatte und Coldplay, knicklichthantierend kleine Konzertsäle gegen die größten Arenen der Welt eintauschte, um ihre bemitleidenswerten Jünger mit pompösen Viva-La-Vida-Dudeleien zu beschallen. Wenn schon Abgesang, dann doch bitte bunt, schrill und mit vollen Taschen.

Mein persönliches Lebewohl mit den einstigen Helden, den mittlerweile von Flensburg bis München, von Mönchengladbach bis Dresden bekannten Killers, fand dort statt, wo die Liebe jäh begann. In Köln. Nicht vor 400 Leuten im Underground wie damals, nein, auf der Domplatte spielten sie nun. Das 40-Euro-Ticket in der Tasche, zwei bis drei Flaschen Pils im Rucksack, rein in den Regionalexpress. Gut 20.000 Leute kamen an diesem heißen Julitag, drängelten sich vor die Bühne, um einen besonders guten Blick auf Eyeliner-Flowers zu werfen, der sich in seiner neuen Rolle als Glam-Rock-Ikone durchaus zu gefallen schien.

Mal ganz davon abgesehen, dass sich die Akustik irgendwo zwischen spitzen Fingernägeln, die langsam eine Schultafel hinunterwandern und Unterwasser-Gesprächen bewegte, spielte die Band ihr Repertoire gelangweilt runter und verabschiedete sich schließlich mit ihrem Gassenhauer. Auf Nimmerwiedersehen, austauschbare „The-Band“.

 

Sorgenlosigkeit, die ich schon lange nicht mehr gespürt habe.

 

Zurück in der Gegenwart, läuft mittlerweile Death Cabs „Photo Album“ und wieder liege ich da, die Killers-Wehmut weicht einem wohligen Gefühl und so treibe ich auf „Styrofoam Plates“ dahin, träume wieder von dem Mädchen, das nun im Gras sitzt und ihren Fuß im Takte der leisen Musik wippen lässt, den Fänger im Roggen liest und mich, ganz vertieft ins Buch, nicht wahrnimmt. Ich gehe auf sie zu.

Alles ist vertraut, die Szenerie aus Bäumen, wolkenlosem Himmel und saftig-grünen Hügeln, der sommerliche Geruch und das kaum wahrnehmbare Vogelgezwitscher versprühen eine Sorgenlosigkeit, die ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Bei ihr angelangt, schaut sie hoch und ein Lächeln huscht über ihre weichen Lippen, bringt ihre schneeweißen Zähne für einen kurzen Augenblick zum Vorschein. Sie steht auf, nimmt mich in den Arm und flüstert: „Are we human, or are we dancer“?