Sebastian Schramm Krebs Kolumne

Fürs Erste Krebs: Episode #5

Nur fünf Buchstaben. Sie reichen aus, um ein Leben für immer zu verändern. Was aber, wenn das Leben noch gar nicht richtig begonnen hat? Sebastian Schramm ist 26 Jahre alt – und leidet an Krebs. Von nun an teilt er auf ZEITjUNG seine Gedanken, Erlebnisse und Anekdoten über die Zeit mit einer Krankheit, die in Deutschland jährlich eine Großstadt auslöscht. Heute: Teil 5 – Der erste Tag in der Klinik…Teil 12 , 3  und 4 findet ihr hier.

Der Weg vom Fahrstuhl hin zum Eingang der Onkologie im Schweriner Helios-Krankenhaus ist hell, bisweilen scheint er gar freundlich. An den Wänden hängen Bilder von Claude Monet, eine riesige Fensterfront spendet Licht, sie gibt den Blick frei auf einen Park direkt vor der Klinik, dahinter der Ziegelsee, ruhig und platt, auf dem kleine Fischerboote schippern. April, Zeit für Neues, alles steht wieder auf, alles beginnt zu leben. Malerisch. Schön. Ruhig. Ein paar Schritte reichen, und die Idylle ist vergessen. „M5“ steht in Schwarz auf orangefarbenen Untergrund auf einem Schild, daneben: „Klinik für Hämatologie / Onkologie und Stammzellentransplantation“. Die Station ist aufgebaut wie ein Schlauch; etwa 60 Meter lang, links und rechts sind die Patientenzimmer, insgesamt 39 Betten. Natürliches Licht gibt es hier nicht, nur, wenn man in die jeweiligen Räume eintritt. Alles wirkt dunkel und kalt, als habe sich der Gang den Geschichten derer angenommen, die jeden Tag mit ihren Infusionsständern über das blaue Linoleum rollen. Fast am Ende der Station ist das Schwestern- und Ärztezimmer, vom Rest abgetrennt mit einer Glaswand.

 

Einer von ihnen

 

Der letzte Tag, es waren die schlimmsten Augenblicke meines Lebens: das CT, die Rückfahrt nach Hause, eigentlich mit einem guten Gefühl, der Anruf, ich müsse sofort ins Krankenhaus, alles ginge schon viel zu lange und jetzt stehe ich auf der Onkologie. Mama hält mich im Arm. Mein ganzer Körper zittert, ich spreche kein einziges Wort. Nur einmal hatte ich etwas gesagt. Auf dem Weg vom Parkplatz hoch zur Station, es kam einfach heraus: „Mama, ich habe solche Angst.“ Mein Vater will mich anmelden, die Information hatte extra angerufen, dass wir da seien. Wir werden ignoriert. Nicht mal ein Blick oder eine kurze Erkennung. Eine junge Patientin, etwa so alt wie ich, geht an uns vorbei. Sie hat keine Haare mehr und trägt Mundschutz. Es dauert fast zehn Minuten, bis sich jemand kümmert. Sie führen uns in das Zimmer 9.5.27. Noch immer hat mit uns niemand darüber gesprochen, warum wir hier eigentlich sind. Es schwebt über uns, natürlich. Ohne Grund ist man nicht auf dieser Station. Aber die Ungewissheit zerrt, sie macht verrückt, bestimmt jeden Gedanken.

Das Zimmer hat vier Betten, zwei große Fernseher und eine kleine Waschnische mit zwei Becken, abgetrennt mit einem weißen Vorhang. Dusche und Toilette sind auf dem Gang. Mein Bett ist neben dem Eingang gleich links, daneben ein Kleiderschrank und ein Nachttisch. „Packen Sie am besten aus und räumen alles ein“, herrscht mich eine Schwester an. „Das wird hier wohl alles für länger.“ Klamotten hatten wir nur für ein paar Tage eingepackt. Wir warten, jede Minute fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Dann, endlich, kommt eine junge Ärztin ins Zimmer, Frau Kramer. Ihr dunkles, schwarzes Haar hat sie streng nach hinten gebunden, in der Hand hält sie eine dicke Akte. „Machen wir Aufnahme jetzt, Herr Schramm.“ Ihr Deutsch klingt metallisch und hart, ich tippe auf Osteuropa. Kramer fragt: Größe, Gewicht, ob ich rauche, wie viel Alkohol ich trinke, wie viel Sport ich mache, ob ich alleine duschen könne, alle meine bisherigen Krankheiten, die Krankheiten meiner Angehörigen. Sie legt mir eine Kanüle in die linke Armbeuge und nimmt Blut ab. Danach schickt sie meine Eltern raus. Kramer tastet nach Lymphknoten und horcht mich ab. Ihr Gesicht ist versteinert. „Gut, Herr Schramm. Gleich kommt Oberarzt, Herr Meier. Warten Sie bitte.“ Ich lege mich aufs Bett, meine Eltern sind wieder im Zimmer. Meier, ein großer Mann mit Brille und akkurat gestutztem Dreitagebart, kommt in Begleitung eines Chirurgen. Ein kurzes Hallo, dann beugen beide ihre Köpfe über den geschwollenen Lymphknoten am Hals. Sie kommunizieren ohne Worte, kurzes Abtasten, zustimmendes Nicken. Am kommenden Donnerstag, erst in sechs Tagen, solle er entnommen werden, erklärt der Chirurg. Früher ginge es nicht, es gäbe keine Kapazitäten. „So lange lasse ich meinen Sohn nicht hier“, sagt Papa. Er ist nicht laut, aber seine Stimme vibriert. „Dann nehme ich ihn wieder mit.“ Auch Meier ist irritiert. Er bittet seinen Kollegen mit auf den Flur. Als sie wieder kommen, habe ich einen Termin für Montag.

„Basti, 90 Prozent!“

Die Stelle am Hals sei für eine Operation eher ungünstig, sagt der Chirurg bei der Aufklärung. „Da kann man ein paar Nerven erwischen, die für den Arm zuständig sind. Möglich, dass Sie ihn danach nicht mehr bewegen können. Passiert ganz selten, aber ich muss es Ihnen sagen.“ Er hält mir den Aufklärungsbogen hin, ich soll unterschreiben. Eine andere Wahl hätte ich sowieso nicht, sagt er, gibt mir einen Kugelschreiber und verschwindet wieder. Eine Schwester schickt uns auf den nächsten Termin, am anderen Ende der Klinik ist die Anästhesie, wegen der OP. Wir wollen gerade zum Fahrstuhl, als wir zufällig auf dem Flur mit Oberarzt Meier ins Gespräch kommen, es war nicht einmal geplant. Er lehnt an der Wand, seine Arme sind verschränkt. Das Leben auf der Station steht nicht still. An uns vorbei gehen Ärzte, Patienten, Schwestern, Angehörige. „Wir gehen von einem Lymphdrüsenkrebs aus. Ein Hodgkin-Lymphom.“ Meier sagt es völlig entspannt, als sei es das Normalste der Welt. Bis zur Biopsie und Knochenmarkspunktion könne er keine Gewissheit geben, aber mein Alter, das CT und die Blutwerte sprächen dafür. Eine Krankheit, die man sehr gut behandeln könne, mit mindestens sechs Chemotherapien und einer anschließenden Reha. Kein Wort darüber, dass nicht wenige danach noch in die Bestrahlung müssen, kein Wort über Nebenwirkungen oder Langzeitfolgen. Nichts. Krebs, eine Krankheit, auf dem Flur degradiert zu einer Art Kollateralschaden, einer kurzen Auszeit: feststellen, bekämpfen, aufstehen, weitermachen. Ich bin in Trance, selbst als er mir die entscheidenden Worte sagt. Worte, an die ich mich in den nächsten Monaten klammern sollte, immer wieder, jeden verdammten Tag.

„Bestätigt sich der Verdacht, haben Sie eine Überlebenschance von 90 Prozent.“
„Hast Du das gehört, Basti?“, fragt Papa.
„Ja.“
„90 Prozent!“

Aber, schiebt er nach, wir müssten sofort anfangen. Ich trüge einen Tumor im linken Brustkorb, zwischen Lunge und Herz; 11,5 x 9,5 x 9,8 cm, größer als eine zusammengeballte Faust. Die Gefahr, dass ich irgendwann keine Luft mehr bekäme oder zusammenbräche, sei der Grund, weshalb alles so schnell ginge, deshalb sollte ich sofort ins Krankenhaus. Wieder explodiert mein Kopf: Endlich etwas Handfestes, zumindest für den
Moment, eine Prognose, für die andere ihr Leben geben würden. Doch da ist auch der Gedanke, eine Krankheit zu haben, die Menschen jämmerlich zugrunde gehen lässt, keinen Halt zu machen scheint, vor nichts.