Misfit Model Casting

Models mit Behinderung oder Übergewicht: Wir waren auf einem Misfit-Casting

Ein sonniger Frühlingsmorgen im März. Im Münchner Glockenbachviertel schlendern die stylishen Großstädter die Straße entlang und fangen jeden Sonnenstrahl ein, den sie kriegen können. Alle Cafés sind voll und man fragt sich, wo sich all diese Menschen im Winter versteckt haben. Durch ein Schaufenster sehe ich einen Mann lässig an der Wand lehnen und nach draußen schauen: Schiefe Zähne, Tränensäcke und Segelohren – das muss also Del Keens sein. Er ist Chef der Berliner Model-Agentur Misfit-Models, die sich auf Gesichter weit ab vom gängigen Heidi-Klum-Schönheitsideal spezialisieren. Hier bin ich richtig. Ich betrete den Showroom einer Kunstgalerie, welcher heute Schauplatz eines etwas anderen Model-Castings sein wird.

Der Mann, der mich gut gelaunt und mit einem locker, legeren „Hi, I am Del!“ begrüßt, ist Mitte 40 und selbst ein international erfolgreiches Charaktermodel. In München castet der Brite neue Models für seine Kartei. Gesucht werden keine Normalo-Models, wie wir sie aus Hochglanzmagazinen kennen, sondern richtige Typen, Menschen mit gewissen Makeln. „Ein spannendes Gesicht, das aus der Masse heraussticht, ein guter Charakter und eine gehörige Portion Selbstbewusstsein – das sind die Eigenschaften, die ein gutes Misfit-Model ausmachen“, sagt Del Keens, der selbst schon als unkonventionelles Model für Marken wie Calvin Klein, Renault, Levis und Diesel gearbeitet hat. In seiner Model-Kartei finden sich Menschen mit Tattoos und Piercings, körperlichen Einschränkungen, Kleinwüchsige und Übergewichtige. Aber auch Menschen, die im falschen Körper geboren sind oder im Rollstuhl sitzen. Kurz gesagt: Menschen, die eben nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen.

 

„Es wird immer jemanden geben, der dich schön findet.“

 

„Soll ich mehr lächeln, Del? Ich schaue sonst so mürrisch, wenn ich nicht lache“, ruft Casting-Teilnehmerin Lucy Del Keens zu. Die hübsche Blondine posiert gekonnt in ihrem Rollstuhl, während dieser die Polaroids für ihre Set-Card schießt. Auch die Münchnerin möchte in Keens Kartei aufgenommen werden. Leider konnte sie den Bewerberbogen nicht vollständig ausfüllen, denn ihre Körpermaße entsprechen nicht der Norm. Doch genau das ist es, was Del sucht. Die 30-Jährige hat bereits ein wenig Erfahrung als Model gesammelt. Ihren Körper mag sie inzwischen ganz gern, wie sie sagt.

Das strahlt die junge Frau mit ihrer positiven Art auch aus. „Die Shootings sind eine Art Pflege für mein Selbstbewusstsein“, erzählt die Münchnerin. Wenn Lucy gerade nicht als Sängerin auf der Bühne steht, liebt sie es, Nachtwanderungen durch Schwabing zu machen oder einen Kaffee in ihrem Lieblingscafé zu trinken. Auf die Frage, was sie jungen Menschen mit auf den Weg geben würde, die unzufrieden mit ihrem Körper oder sich selbst sind, antwortet sie: „Es wir immer jemanden geben, der dich schön findet.“ Starke Worte, an die wir uns vielleicht erinnern sollten, wenn uns mal wieder Selbstzweifel zwicken sollten.

 

Mach dir deinen Nachteil zum Vorteil

 

Ein anderer Bewerber ist Johannes aus München, sein Markenzeichen: Er hat nur ein Auge. Der 32-Jährige sieht die Welt aus der Perspektive einer Fotolinse. „Warum seine Nachteile also nicht gezielt nutzen und einfach zu Vorteilen umdrehen?“, dachte sich der junge Photograph aus München, der einen Blog unter der Domain www.einaugeistgenug.de führt und gerne Menschen fotografiert. Genau wie Lucy findet auch er, dass es wichtig ist, dass mehr Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit stehen, und nicht aufgrund ihres Makels beachtet werden, sondern für das, was sie leisten.

 

Makel sind menschlich

 

Dass man auch ohne einen makellosen Körper Karriere machen kann, das beweisen nicht zuletzt Models wie Mario Galla, der mit seiner Beinprothese schon für Designer wie Michalsky über die Fashion-Laufstege dieser Welt geschritten ist oder auch Chantelle Brown-Young, die trotz ihrer Vitiligo-Krankheit ziemlich erfolgreich als Model arbeitet. Solche Menschen bleiben uns eben einfach im Gedächtnis und das hat vielleicht auch die Fashion-Industry mittlerweile ein bisschen verstanden. Del, der schon ein alter Hase im Modegeschäft ist und auf über 20 Jahre Erfahrung als Charaktermodel zurückblicken kann, denkt jedoch nicht, dass sich der Modezirkus in den nächsten Jahren viel verändern wird: „Size-Zero-Models und Casting-Shows, die solche suchen, wird es immer geben, solang es das Publikum dafür gibt“.

Nichtsdestotrotz ist Keens der Meinung, dass die verstärkte mediale Präsenz von Charaktermodels einen Einfluss auf die Menschen auf der Straße haben könnte, weil „man sich ganz einfach mit ihnen identifizieren kann“. Makel sind menschlich und das sollte man nicht vergessen. Das sieht auch der Brite so und findet hierzu die passenden Worte: „I am not just like a pretty face!“. Da hat er recht, denn hinter dem sympathisch verrückten Mann und seinen Charakterköpfen steckt weitaus mehr als ihr auffallendes Äußeres, nämlich Charisma und pure Lebensfreude. In diesem Sinne, „sei du selbst, scheiß drauf was der Mainstream von dir denkt und bleib sauber“ – das sind die Worte, mit denen sich Del von mir verabschiedet.