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Digitaler Narzissmus: Online-Ich vs. Offline-Ich

Von Marie Hesse

Es beginnt schon sehr früh in unserem Leben. Wir kommen auf die Welt und fangen erst mal an laut zu schreien. Mami und Papi freuen sich, das Kind ist gesund. Später schreien wir dann, wenn wir Hunger haben, unser Bruder uns die Banane vom Teller klaut oder der eigene Freund sich heimlich mit seiner Exfreundin getroffen hat. Schreien für Aufmerksamkeit sozusagen. Solange man sich in der physischen Welt befand, war der Schrei nach Aufmerksamkeit kein Problem. In Zeiten von Facebook, Tinder und Instagram jedoch schreien alle. Was müssen wir also machen, um im Schmelztiegel der physischen und digitalen Welt wahrgenommen zu werden? Und bleibt das Ich da nicht irgendwie auf der Strecke?

Und, wieviel Narziss steckt in dir?

Neulich wurde mir gesagt: „Ist schon irre, wie viele Leute mittlerweile so persönliche Details von sich im Internet breittreten. Das bleibt da ja für immer. Furchtbar, die ganzen Narzissten.“ Da musste ich erst mal schlucken und habe mich im gleichen Atemzug zum Retter der fälschlicherweise als Narzissten bezeichneten Selbstdarsteller ernannt.

Der ursprüngliche Narziss war Grieche. Er hatte zwar nie einen eigenen YouTube-Kanal, hat aber dennoch das erreicht, wovon Bibi und Dner nur heimlich zu träumen wagen: man spricht noch heute über ihn. Der besagte Jüngling verschmähte einst die innige Liebe einer Frau und (wie sollte es auch anders sein?) wurde dafür hart bestraft. Narziss kämpfte bis zum Tod mit ewiger Selbstliebe, eine vor allem deshalb so besondere Form dieser Emotion, weil das Objekt der Begierde stets unerreichbar bleibt. Schon allein deshalb ist Selbstliebe von Beginn an zum Tode verurteilt. Auch Narziss verbrachte ein eher unglückliches Leben, und weil das Karma ein kleiner Witzbold ist, wurde er nach dem Tod zu einer Blume. Drei Mal dürft ihr raten. Genau, eine Narzisse.

Vielen Dank für die Blumen

Nun würde ich die These wagen, dass kaum einer von uns (Präsidenten einmal ausgenommen) ein wortwörtlicher Narzisst ist. Viel eher sind wir alle Selbstdarsteller, wie sie im Buche stehen. Nein? Doch. Jeder von uns, der ein öffentliches Leben neben seinem privaten führt und lieber morgens Selfies macht, weil da das Licht besser ist, ist ein Selbstdarsteller. Wir kreieren mithilfe kleiner Apps, lustiger Sprüche (danke, Pinterest!) und der Bildbearbeitung ein Spiegelbild, das nicht mehr das unsere ist. Wir erschaffen das Abbild unseres erwünschten Ichs. Dabei beeinflussen wir ganz gezielt, was wir in der Öffentlichkeit von uns zeigen und steuern somit bewusst die Interaktion unseres Online-Ichs mit der Außenwelt. Um mich an dieser Stelle in Selbstreflexion zu üben: auch ich habe schon mal einen fotogenen Cappuccino bestellt, um davon ein Foto machen zu können. Dabei mag ich Kaffee mit Milch eigentlich nicht. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Wer bin ich und warum bin ich hier?

Die Anerkennung jedoch, die uns in Form von „Likes“ und „Shares“ entgegenschlägt, kommt bei den meisten Leuten nicht mehr an. Stattdessen klopft immer öfter die Identitätsfrage an die Innenseite des Schädels. Online eine Rolle zu spielen und das Offline-Ich mithilfe des richtigen Lichts und Filters besser aussehen zu lassen, hat nämlich leider eine unerwünschte Nebenwirkung. Wenn ich anderen ständig online etwas vormache, halte ich mich irgendwann selbst für jemanden, der ich nicht wirklich bin. Wer bei Tinder also den lässigen Skater oder die sexy Jurastudentin raushängen lässt, in seinem wahren Leben aber noch nie auf einem Rollbrett stand oder die Jura-Fakultät von innen gesehen hat, sollte seine Authentizität mal wieder ganz fest umarmen. Abhilfe schafft dann nur eine eigens verschriebene Kur. Frei nach dem Motto: Zu Risiken und Nebenwirkungen denken Sie vor dem nächsten Posting einfach mal ein bisschen nach, wie viel Authentizität noch vorhanden ist und fragen Sie gegebenenfalls ihre Familie oder besten Freunde.

#realitycheck

Authentizität wird heute zu einer immer selteneren und dafür umso wichtigeren Ressource. Unser Online-Ich bedingt schließlich auch irgendwie unser Offline-Ich. Eigentlich sollte das aber umgekehrt sein. Sich vollkommen ungezwungen und spontan auf Plattformen wie Instagram zu bewegen, möchte ich natürlich keinem raten (Obacht: das Internet merkt sich alles!), aber lediglich bewusst geschaffene Fake-Situationen wiederzugeben bringt unsere hauseigene Authentizität immer schneller an den Rand der Verzweiflung. Mehr Gesichter mit Pickelchen bei Instagram zu sehen wäre doch schon mal ganz schön. Oder auch mal eine Hausfassade ohne Farbfilter. Unsere Authentizität würde es uns jedenfalls danken, denn Fakt ist: wenn wir Situationen und Emotionen nur noch für unsere Instagram-Follower, Facebook-Freunde und Snapchat-Community kreieren, degradieren wir uns zum Statisten unseres eigenen Lebens. Und eigentlich wollen wir doch alle nur die Hauptrolle spielen.


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Bildquelle: cea + unter CC0 Lizenz