Junge attraktive Frau mit arrogantem Blick

Generation Ich: Wieso ein bisschen Narzissmus nicht schaden kann

Es ist Freitagabend, ich sitze mit meiner Freundin M. in einer Bar. Es ist ein paar Wochen her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben und je länger der Abend dauert, desto mehr erinnere ich mich wieder daran, wieso das so ist. M. hat ein Lieblingsthema, das sie am liebsten Tag und Nacht ausdiskutieren und analysieren würde. Ein Thema, dem sie so viel Aufmerksamkeit und Hingabe schenkt, wie sonst keinem anderen. Nicht etwa die Flüchtlingskrise, die politische Situation in den USA oder das tragische Ende von Sanft und Sorgfältig. M.s Lieblingsthema ist M. Besser gesagt: Das Leben und Leiden von M. Und das präsentiert sie mir an diesem Abend, im ungekürzten Director’s Cut. Es dauert geschlagene zwei Stunden, bis zum ersten Mal die Frage kommt: „Wie geht’s dir denn eigentlich?“. Rein höflichkeitshalber, versteht sich. Zwei Stunden, in denen sie ohne Punkt und Komma jede Heldentat im Job, jeden originellen Text an den aktuellen getreuen Verehrer und vor allem jede Eigenschaft an sich selbst durchleuchtet und zerlegt. „Weißt du, ich bin ja so ein Mensch, der…“. Ich schlafe fast im Sitzen ein. Als die schlauen Ratschläge meinerseits ausbleiben und eher in verschiedene Variationen von „Mhm“ übergehen, fragt M., ob ich heute müde bin. Ich hätte so wenig von mir erzählt. Ich ergreife die Möglichkeit zur Flucht, murmle etwas von einem harten Tag – nicht dass diese Aussage auf Interesse stoßen würde – und flüchte vor M. und ihrer niemals versiegenden Quelle an First World Problems. Ich schwöre mir, diesmal lieber Jahre als Wochen bis zum nächsten Wiedersehen vergehen zu lassen.

 

Gesunder Egoismus oder Selbstverliebtheit?

 

Auf dem Heimweg komme ich ins Grübeln. Über M., ihren Monolog und unsere Freundschaft. War es zwischen uns schon immer so? Ich, der geduldige Zuhörer und sie, die selbstsüchtige Egomanin? Ja, es geht meistens um M. Wir schauen die Filme, die sie möchte, gehen in die Clubs, die ihr gefallen und diskutieren die Probleme, die sie betreffen. Aber ist meine Reaktion vielleicht trotzdem ein bisschen übertrieben? Wo verläuft denn eigentlich die Grenze zwischen der gelegentlichen Suche nach einem Ego-Push und purer Selbstverliebtheit? Wo hört die gesunde Portion Egoismus auf und wo fängt der Narzissmus an? Narziss, der Namensgeber dieser so verhassten Eigenschaft, wurde der griechischen Mythologie nach für seinen übermäßigen Stolz mit unstillbarer Selbstliebe bestraft und verliebte sich unsterblich in sein eigenes Spiegelbild. Ganz so weit ist es bei meiner Freundin M. vielleicht noch. Kommt es zu übertriebenem Stolz und leidenschaftlicher Selbstliebe, ist sie aber auf jeden Fall auf dem Fortgeschrittenen-Level.

 

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„Narzissmus existiert in vielen Schattierungen und Schweregraden entlang eines Kontinuums“, erklärt der Psychotherapeut Joseph Burgo in der Zeitschrift Psychologie Heute. Die Skala reiche „von gesundem Selbstrespekt am einen bis zu pathologischem Narzissmus am anderen Ende’“. Ist dieses Ende und damit der pathologische Narzissmus erreicht, spricht man von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. „Kernmerkmale dieser Störung sind eine Überhöhung der eigenen Bedeutung und mangelnde Empathie“. Ungefähr ein Prozent der Bevölkerung leide nach Joseph Burgo an dieser Störung. Als weniger krankhaft, aber doch extrem narzisstisch ordnet Burgo weitere fünf Prozent der Bevölkerung ein. Eine pathologische Störung möchte ich M. jetzt vielleicht doch nicht anhängen. Auf der Narzissmus-Skala müsste ich sie also vielleicht eher mittig festmachen. Aber was ist eigentlich mit mir selbst? Kommt mein Ärger nicht auch daher, dass es bei unserem Gespräch kein einziges Mal um mich ging? Dass mir mein eigener Ego-Push verwehrt wurde und ich mir meine Probleme und Problemchen nicht von der Seele reden konnte? Ich frage mich, ob mich das nicht eigentlich genauso egozentrisch macht wie M. Steckt am Ende doch ein kleiner Narzisst in jedem von uns?

 

Sind wir nicht alle ein bisschen narzisstisch?

 

Eine „narzisstische Epidemie“ schreibt die Persönlichkeitsforscherin Jean Twenge laut Psychologie Heute vor allem den Studierenden zu. Sie geißelt die angebliche Arroganz und das Anspruchsdenken der heutigen Jugend. Eine „Generation Ich“ sei da herangewachsen. Das bestätigt auch die „How I See Myself-Skala“, ein Fragebogen, mit dem Forscher unser Selbstwertgefühl ermitteln wollen. Die Teilnehmer müssen sich in verschiedenen Eigenschaften selbst einstufen. „Dabei zeigte sich in allen Ländern, in denen der Test erprobt wurde, eine generelle Verzerrung: Die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer schreibt sich selbst mehr bewundernswerte und weniger abstoßende Züge zu als dem Rest der Bevölkerung. Die allermeisten von uns halten sich für intelligenter und attraktiver als den Durchschnitt, für bessere Autofahrer ohnehin“, heißt es in Psychologie Heute. Die wenigsten von uns halten sich demnach selbst für durchschnittlich, eher für besonders und spezieller als die Masse. Kann das stimmen? Es scheint irgendwie zum Mantra aller Soziologen, Psychologen und Medienmenschen geworden zu sein, die Generation-Y als eine Meute von Individualisten und Egomanen zu betiteln. Nicht umsonst werden Leute wie Michael Nast zu kleinen Berühmtheiten, weil sie Bücher über die „Generation Beziehungsunfähig“ verfassen und festzustellen versuchen, dass wir vor lauter Selbstverliebtheit und Egoismus zur ewigen Einsamkeit verdammt sind. Dem Erfolg des Buches nach zu urteilen, hat Nast damit die Antwort gefunden, auf die besonders Single-Frauen zwischen 18 und 35 so sehnsüchtig gewartet haben. Sind wir wirklich eine Generation von selbstbezogenen Narzissten, die sich alle für schlauer, attraktiver und besser halten als den Durchschnitt?

Wenn ich an meine Freundin M. und zugegebenermaßen auch ein bisschen an mich selbst denke, komme ich zu dem Schluss: Gut möglich. Wer sieht sich schon selbst in allen Lebensbereichen vollkommen rational im Mittelfeld? Hat nicht jeder ein Gebiet, in dem er sich besonders gut auszukennen glaubt, bei dem er sich sicher ist, es besser zu beherrschen als jeder in seinem Umfeld, bei dem man seinen Redefluss kaum mehr stoppen kann und sich einfach unweigerlich in den Mittelpunkt der Diskussion stellen muss? Bei aller Bescheidenheit: Sich selbst immer klein zu machen, kann auch nicht der richtige Weg sein.

 

Narzissmus als Antrieb und Inspirationsquelle

 

Für alle Selbstoptimierer und heimlichen Egomanen gibt es jetzt aber Hoffnung. Dass wir alle angeblich immer narzisstischer werden, ist nicht unbedingt eine negative Entwicklung, sondern hat sogar positive Folgen. „Narzissmus sei nicht an sich eine Störung, sondern eine universelle menschliche Eigenschaft: Der Drang, sich besonders zu fühlen. Narzissmus sei nicht generell, sondern nur in den Extremen schädlich“, zitiert Psychologie Heute den amerikanischen Psychologen Craig Malkin. „Malkin sieht Narzissmus als „eine Angewohnheit, die Menschen nutzen, um sich selbst Mut zuzusprechen“, als innere Quelle von Überzeugung, Zuversicht und Tatkraft“. Der Psychoanalytiker Heinz Kohut sah den Narzissmus gar als Instrument zum Selbstschutz. „Vor allem in der Adoleszenz sei Selbstüberschätzung bis hin zu Größenfantasien normal, darin manifestiere sich der Wunsch nach Anerkennung und Eigenständigkeit. Was auch im Erwachsenenalter bleibt, ist das Streben nach einem glänzenden Selbstbild […] ein Antrieb der Psyche, der uns nach Zielen greifen lässt, mit Inspiration versorgt“.

Ein gewisses Maß an Narzissmus ist also notwendig für ein gesundes Selbstwertgefühl. Und auch bei der Entwicklung von Sozialkompetenzen soll uns ein bisschen Selbstüberschätzung unter die Arme greifen: „Menschen, die sich überdurchschnittlich fühlen, sind glücklicher, geselliger und oft auch physisch gesünder als ihre bescheideneren Mitmenschen. Ihr leicht übertriebenes Selbstvertrauen wird oft zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung und geht deshalb mit einer Reihe angenehmer Eigenschaften einher: Kreativität, Führung, Zuversicht, Durchhaltevermögen, Leidenschaft. Menschen mit einer guten Dosis Narzissmus begegnen – entgegen dem Klischee – sogar den Menschen um sie herum besonders aufgeschlossen. Chefs mit einem leicht übersteigerten Selbstwertgefühl werden von ihren Mitarbeitern als effektiver eingestuft als solche, deren Ego allzu groß oder allzu klein ist.“

So lange man nicht ins Extrem abrutscht, hält ein bisschen Narzissmus demnach durchaus einige Benefits für uns bereit. Vielleicht sollte ich meine Freundin M. also in Zukunft öfter mal über ihre Egozentrik belehren. Das wird ihre narzisstische Seite zwar nicht vertreiben, aber wenigstens habe ich dann mal ein paar Minuten Zeit, meine eigene auszuleben.

 

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Bild: Larisa Birta unter CC0-Lizenz