Grenzen No Border No Nation

Stell Dir vor: Die Grenzen sind zu

Obergrenzen definieren, Landesgrenzen schließen, Aufnahmestopps, Kontingente, Grundrecht auf Asyl abschaffen, Bewegungsfreiheit einschränken, den Schengen-Vertrag aussetzen: Der Teufel hat viele Namen. Verfolgt man dieser Tage die politische Debatte um die Bewältigung der Flüchtlingskrise, wird einem vor lauter Patentrezepten, die Abhilfe schaffen sollen, ganz unwohl.

Sie alle versprechen eines: Die Anzahl von Flüchtlingen stark zu reduzieren. Nachdem 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen, sind es 2016 bisher 30.000 pro Tag. Es gleicht zweifelsohne einer Herkulesaufgabe diese Menge an Asylanträgen zu bearbeiten, die Menschen zu versorgen, sie zu integrieren.

Deshalb mehren sich die Forderungen, die Anzahl der ankommenden Flüchtlinge durch Grenzschließungen und Einreisestopps zu reduzieren. Rechtspopulistische Parteien wie die AfD wählen hierfür eine zumeist plumpe und populistische Rhetorik. Aber auch seitens der etablierten Parteien gibt es immer häufiger Vorstöße, der massenhaften Einwanderung einen Riegel vorzuschieben. Flüchtlingsströme sollen möglichst schnell möglichst stark reduziert werden.

Mit solchen Forderungen lässt sich um Wählergunst buhlen. Man suggeriert, mit einfachen Antworten komplexe Probleme lösen zu können. In Wirklichkeit würde eine Grenzschließung Deutschlands kein Problem aus der Welt schaffen. Man stelle sich folgendes Gedankenexperiment vor: Von heute auf morgen beschließt die deutsche Regierung, die Einreise an Deutschlands Südgrenze zu unterbinden. Was würde passieren?

 

Ein Kontinent im Ausnahmezustand

 

Es gibt 60 Übergänge an Deutschlands Südgrenze. Sie trennen die Bundesrepublik von seinen Nachbarn Schweiz und Österreich im Süden und Tschechien im Südosten. Teilweise sind es natürliche Grenzen wie die Zugspitze, der Fluss Salzach oder der Nationalpark Berchtesgaden, teilweise überquerbare Landstraßen. Im Dezember legte die Bundespolizei dem Deutschen Bundestag einen Plan vor, wie eine solche Grenzschließung durchzusetzen wäre. Sie kommt zum Schluss, dass eine Grenzschließung Europäisches Recht brechen würde und sich personell nur wenige Tage durchhalten ließe.

Doch führen wir das Gedankenexperiment weiter: Angenommen Deutschland würde das Vorhaben umgesetzt bekommen. Was dann?

Zum einen ist klar: Die Flüchtlinge würden nicht aufhören zu flüchten, denn keine Grenzschließung beendet einen Bürgerkrieg. Menschen würden also auch weiterhin nach Zentraleuropa strömen. Zum anderen würde solche Maßnahme eine kontinentale Kettenreaktion in Gang setzen: Nimmt Deutschland keine Flüchtlinge mehr auf, verweigern sich auch Tschechien und Österreich, die den Zustrom alleine nicht schultern können. Die Flüchtlinge wären plötzlich auf dem Balkan und in Griechenland.

Wenn man Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausende in Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Bulgarien, Mazedonien, Albanien und Griechenland verharren lässt, bringt man einen Kontinent zum Implodieren. Der Balkan besteht aus instabilen Demokratien, die oftmals selbst ethnisch und konfessionell gespalten sind und keine 30 Jahre Demokratieerfahrung haben. Sie besitzen aber auch schlichtweg nicht die Ressourcen, um die Grundversorgung von so vielen Hilfsbedürftigen zu bewältigen. Flüchtlingen würde es am Nötigsten mangeln, die Staaten würden in tiefe Versorgungskrisen schlittern.

 

Welches Europa wollen wir?

Doch nicht nur für Flüchtlinge und Balkan-Staaten würde sich die Lage drastisch verschlechtern. Auch Deutschland, weltweit zweitgrößter Exporteur, hätte mit den Konsequenzen einer Grenzschließung zu kämpfen. Unlängst warnten Handelsverbände, dass nur minimal längere Wartezeiten an Grenzen zu einem Verlust von zehn Milliarden jährlichen führen könnten. Ein Land mit dem Handelsvolumen Deutschlands ist auf offene Grenzen angewiesen: Waren werden verfrachtet, Zulieferungstermine vereinbart, Überschüsse erzielt. Geschlossene Grenzen würden den Handel zwischen Ländern, so wie er heute existiert, zum Erlahmen bringen.

Auf individueller Ebene sollte man sich selbst fragen, in was für einem Europa man leben möchte. Definiert sich unser Kontinent als Wertegemeinschaft, muss Humanität unser oberster Grundsatz sein. Orientiert sich unser Land  an christlichen Leitwerten, gelten Barmherzigkeit und Nächstenliebe.

Diese moralische Dimension wird von unserem Grundgesetz gestützt: Schutzbedürftige haben Anrecht auf Asyl, und Schutzbedürfigkeit hat keine Obergrenze. Ich möchte nicht Teil eines Kontinents sein, der regungslos zusieht, wie Menschen auf der Balkanroute erfrieren. Ich möchte auch nicht Teil eines Kontinents sein, der illegal einreisende Flüchtlinge mit Wasserwerfern und Tränengas vertreibt, wie der Plan der Bundespolizei es vorsieht.

 

Die Lösung liegt nicht in Europa

 

Im Grunde genommen lässt sich die Debatte abkürzen: Offene Grenzen, der Schengenraum, die Reise- und Bewegungsfreiheit – all das sind Errungenschaften der Nachkriegsgeschichte, die nicht zur Debatte stehen sollten, nur weil sich Flüchtlingsbewegungen aus Bürgerkriegsländern auf den Weg zu uns machen. Wenn Schengen scheitert und Grenzen wieder errichtet werden, scheitert Europa. Das ist kein Preis, den man bereit sein sollte zu zahlen, um sich aus der Verantwortung zu ziehen.

Natürlich könne man diese Verantwortung auch weiter reichen und fragen: Warum sollen wir uns zu unseren Grundwerten bekennen, wenn Dänemark, Polen oder Ungarn dies gleichzeitig boykottieren? Hier aber muss man entgegnet werden: Nur weil andere sich verweigern, macht das die eigene Position nicht falsch. Im Zweifelsfall profitiert Deutschland von offenen Grenzen mehr als jedes andere europäische Land und ist zudem eher in der Lage, solche Krise zu schultern.

Angela Merkel hat Recht: Es gab ein Leben vor Schengen, aber alleine die Existenz einer Sache macht diese noch lange nicht wünschenswert. Eine Grenzschließung wäre verantwortungslos und unsolidarisch. Man würde sich damit ins eigene Bein schießen und einen Kontinent in die Krise stürzen. Die Lösung für die Flüchtlingskrise liegt an den EU-Außengrenzen und in den Krisenregionen. Aber nicht an den deutschen Grenzen.

Bildquelle: Florian Lehmuth unter CC by 2.0

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