kein grund zur eile unpuenktlichkeit

Verschwende deine Zeit und sei unpünktlich!

Unpünktlichkeit ist immer ärgerlich, wenn du derjenige bist, der wartet. Weil sich das Warten wie verschwendete Lebenszeit anfühlt und du es respektlos findest, wie mit eben dieser umgegangen wird. Du lebst schließlich eh ständig unter Stress, immer mit der Angst, nicht alles schaffen zu können, was du dir vorgenommen hast und hast bereits jede Sekunde deines Lebens verplant. Für die Möglichkeit, so viele Dinge zu erleben, zu erreichen und zu meistern, zahlst du jedoch mit dem Unperfekten, während im Hintergrund permanent das drohende Ticken der Uhr ertönt.

Wir verwandeln uns in Fließbandarbeiter des Alltags

Durch gesellschaftlich anerkannte Normen werden unpünktliche Wesen in die Position von Rebellen gedrückt, die aufgrund von zehnminütigem Zuspätkommen mit Argwohn betrachtet werden. Ein Taugenichts, ein Faulpelz, jemand, der sein Leben nicht unter Kontrolle hat. Wenn wir uns jedoch aus Angst vor Versagen dazu antreiben, auf die Minute genau am Ankunftsort anzukommen, verwandeln wir uns in panische Fließbandarbeiter des Alltags.

Genieße die verschwendete Zeit

Wenn du den guten Freund, die effiziente Botschafterin, die liebevolle Mutter, den ausgefallenen Koch und den avantgardistischen Künstler in ein Leben packen willst, wirst du über kurz oder lang zu spät kommen. Du kannst aufhören, dieser absurden gesellschaftlichen Illusion Glauben zu schenken, du könntest alles sein und das alles sehr gut. Mit der Entscheidung für den wundervollen Zauber der Vielfalt nimmst du in Kauf, dass du auch an der ein oder anderen Aufgabe scheiterst, ein wichtiges Meeting verpasst, zu spät zum Essen erscheinst oder in deinen Yoga-Kurs reinhuscht, während alle anderen schon mit Katze und Kuh am Aufwärmen sind. Lass dich weder von anderen dafür bestrafen, noch bestrafe dich selbst. Vielmehr schlage ich vor: versuch die Zeit, die sich verschwendet anfühlt, zu genießen.

Hab etwas Nachsicht mit Zuspätkommern

„Zeit gibt es, damit nicht alles auf einmal passiert, und Raum, damit nicht alles dir passiert.“ Mit diesen wunderbar tröstlichen Worten beschreibt Susan Sontag in „At the same time: Essays & Speeches“ was mit dir passiert, wenn du Zeit als ein Geschenk ansiehst. Es gibt für alles den richtigen Moment, aber manche Dinge brauchen eben länger. Stell dir vor, du wartest auf jemanden, der es mit der Pünktlichkeit nicht ganz so genau nimmt – dann mach dir bewusst, dass es dafür meist einen triftigen Grund gibt. Und dieser kann alles Mögliche sein – zwischen großen und kleinen Katastrophen. Einem schlechten Körpergefühl, weswegen dreimal das Outfit gewechselt werden musste, ein aufwühlender Anruf der Eltern, eine großartige Idee, die schnell notiert wurde, bevor sie in Vergessenheit gerät oder auch nur die Schwierigkeit, alles unter einen Hut zu bringen. Was auch immer es sein mag, das einen Menschen davon abhält zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein: Hab etwas Nachsicht.

Warten ist kinderleicht

Und nutze die Zeit des Wartens. Du hast jetzt die Chance einmal anzuhalten, in Gedanken bei einer lange zurückliegenden Reise zu sein, deinen inneren Diskurs über die Einrichtung deiner neuen Wohnung zu beenden und zu überlegen, was du zu Abend essen möchtest oder einfach nur an die Wand zu lehnen und zu atmen. Es gibt viele Möglichkeiten, diese verloren geglaubte Zeit zurück zu erobern und zu Zeit für sich selbst zu machen. „Das Schöne an der Zeit ist, dass sie ohne Hilfestellung vergeht und sich nicht an dem stört, was in ihr geschieht. Auch die nächste Handvoll Sekunden wird sich vom Acker machen und schon ist das was eben noch unmöglich erschien vergangen und vorbei. Warten ist nicht schwer. Das Leben besteht aus warten. Folglich (…) ist das Leben kinderleicht.“ (Juli Zeh, Schilf).

Wer nicht atmet, kann auch nicht pünktlich sein

Wir sind eine fragile, sehr komplexe Konstruktion aus verschiedenen Einzelteilen, die alle im Einklang mit einander arbeiten, um uns dieses Leben, so wie wir es führen, zu ermöglichen; um uns eine Zeitspanne zu geben, in der wir etwas erschaffen können, nur um uns am Ende brutal im Stich zu lassen. Menschen meiner Generation haben im Schnitt eine Lebenserwartung von 80 Jahren, das heißt wir haben fast 30.000 Tage Zeit, um das bestmögliche aller Leben zu führen. Das klingt nicht sonderlich viel, wenn man bedenkt, wie gigantisch diese Aufgabe ist. Deshalb dürfen wir uns auch jetzt gleich eingestehen, dass wir nicht in der Lage sein werden, überall on time zu erscheinen. Und wenn wir uns das Ausmaß unseres alltäglichen Dramas mal aus der Entfernung anschauen, wird schnell klar: auf 15 Minuten mehr oder weniger kommt es eh nicht an. Also hör damit auf, dich zu hetzen und vergiss das Atmen nicht zwischen all deinen wichtigen Terminen. Denn jemand, der nicht atmet, kann auch nicht pünktlich sein.