Tess Holliday Titel

Schönheitsideal: Tess Holliday ist Profimodel in Größe 52

Es wird geschnippelt, gesaugt und retuschiert, weggelasert, ausgezupft und aufgepumpt, um der Perfektion ein Stückchen näher zu kommen. Millionen von Frauen eifern einem vermeintlich begehrenswerten Schönheitsideal nach, das von großen Firmen und Photoshop geschaffen wurde und eine gnadenlose Regulierung des Speiseplans sowie die absolute Unterwerfung unter Heidi Klums Modediktatur fordert. Deren Show fördert übrigens laut einer aktuellen Studie die Entstehung von Essstörungen. Komisch. Es trägt also nicht zur geistigen Gesundheit bei, wenn ich einer postpubertären Sechzehnjährigen mit Kinderkörper sage, dass sie abnehmen muss? Wer hätte das gedacht.

Wir alle sind uns dabei einig, dass Models nicht die breite Gesellschaft widerspiegeln. Die Durchschnittsfrau hat einfach Besseres zu tun, als strikt auf ihre Ernährung zu achten und sechsmal pro Woche ins Fitnessstudio zu rennen. Arbeiten und Geld verdienen, zum Beispiel. Oder Kinder hüten. Oder, ja, Spaß haben! Mal ganz ehrlich, Traumkörper hin oder her: Ständig nur Grünzeug zu futtern und auf Kohlenhydrate, Zucker oder Alkohol zu verzichten, KANN gar keinen Spaß machen. Kein Schönheitsideal dieser Welt sollte jemanden davon abhalten, um 23 Uhr noch eine Family-Pizza mit extra viel Käse zu bestellen.

 

Größe 52 statt Size Zero

 

Aber das ist sowieso Schnee von gestern. Gegen die Size-Zero-Bewegung regt sich schon seit Jahren heftiger Widerstand. Frankreich hat sogar kürzlich Magermodels auf Laufstegen verboten, mindestens 55 Kilogramm soll ein Model mit einer Körpergröße von 1,75 Meter jetzt vorweisen können. Eine magere (höhöhö) Bilanz, aber immerhin. Doves „Straffe Kurven„-Werbung sorgte schon 2005 für Aufsehen, und heute modeln Plus-Size-Girls wie Hayley Hasselhoff ganz selbstverständlich für Unterwäsche-Kampagnen. Wobei Plus-Size noch kein wirklich austarierter Begriff ist. Erst 2014 erntete die Modekette „Mango“ einen Shitstorm, als sie ihre neue Übergrößen-Kollektion präsentierte – die ab Kleidergröße 40 begann. Ziemlich lächerlich, wenn man bedenkt, dass rund ein Fünftel aller deutschen Frauen Größe 40 trägt. In die Kategorie „Übergröße“ fällt das also bestimmt nicht.

Ebenfalls als Plus-Size-Model bezeichnet wird allerdings auch Tess Holliday. Die 29jährige Amerikanerin hat kürzlich einen Model-Vertrag bei der Agentur Milk Management unterschrieben, ist Mutter von zwei Kindern – und trägt Größe 52. Vor wenigen Tagen war sie auf dem Cover des „People“-Magazins zu sehen und spaltet seither die Modewelt (und die ZEITjUNG-Redaktion). Die einen feiern sie als Leitfigur der #effyourbeautystandards-Bewegung, die ein positives Körperbild vermitteln will und sich gegen standardisierte Schönheitsnormen stellt. Denn: Tess hat kein Problem damit, ihre Pölsterchen und Dellen auch auf Social-Media-Plattformen offen zur Schau zu stellen. Auf ihrem Instagram-Account zeigt sie sich ungeschminkt, ganz privat mit ihrem Verlobten – oder auch gerne im Bikini. So viel Selbstbewusstsein wünscht sich wahrscheinlich auch das ein oder andere professionelle Size-Zero-Model.

 

body pride endet genau dann, wenn die Gesundheit leidet.

 

Kritiker werfen Tess allerdings auch vor, mit ihrer Selbstdarstellung ein schlechtes Vorbild für Übergewichtige zu sein. Mit einer Körpergröße von 1,65 Meter und einem Gewicht von 117 Kilogramm hat Tess einen BMI von 43.0 – das entspricht einer starken Adipositas, die eigentlich unbedingt medizinisch behandelt werden müsste. Trotzdem sagt sie: „Ich bin fett. Und das ist mir egal!“ Vielleicht tatsächlich nicht die inspirierendste Aussage, ganz besonders in Amerika. Dort sind rund 37 Prozent der Erwachsenen fettleibig, Tendenz weiter steigend. Das beeinträchtigt nicht nur das Aussehen, sondern auch die Gesundheit: Erkrankte haben eine signifikant niedrigere Lebenserwartung und ein extrem erhöhtes Risiko für Diabetes, Krebs, Herzinfarkt und Schlaganfall. Fettleibigkeit ist das am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem der Welt: die WHO spricht bereits von einer „globalen Adipositasepidemie“

Sie wolle niemanden dazu ermuntern, dick zu werden. Außerdem lebe sie gar nicht ungesund und mache vier mal die Woche Sport. „Es geht nur darum, seinen Körper zu lieben und seine Träume zu verfolgen“, sagt sie. Ein guter Ansatz, so viel steht fest. Zu lange schon wurde uns aufdiktiert, was „schön“ ist. Dass man über Geschmack streiten kann, ist sowieso klar. Allerdings sollte man auch hier nicht hirn- und sinnlos von einem Extrem ins andere fallen. Denn: body pride  endet genau dann, wenn die Gesundheit leidet. Und das tut sie spätestens ab einem BMI von 40, das ist bewiesen. Tess sollte sich ihrer Rolle als Vorbild etwas bewusster werden; es geht weniger darum, dass jemand dazu ermuntert werden könnte, übergewichtig zu werden. Sondern darum, übergewichtig zu bleiben. Es geht darum, dass adipöse Teenager nicht irgendwann in den Spiegel schauen und sich mit dem Übergewicht und den daraus folgenden Konsequenzen einfach abfinden, weil die Frau aus dem „People“-Magazin damit ja auch ganz hübsch aussieht.

 

Wie wäre es mit dem gesunden Maß?

 

Mindestens genauso grenzwertig ist auch der Hype um Fitness-Models wie Sandra Prikker – eine absolute Gegenbewegung zur #effyourbeautystandards-Kampagne. Das Motto hier: Training, Training, Training! Wieso sollte man sich auch mit den eigenen Rundungen abfinden, wenn man sie in enge Sportklamotten pressen und aufs Laufband bugsieren kann? Klar, ein gewisses Maß an Respekt muss man diesen Frauen ja schon erweisen. Da gehört eine ganze Menge Hingabe (und Zeit und Geld) dazu, seinen Körper nach Belieben aufzupumpen. Aber wieso erwartet die halbe Welt jetzt, dass frau ebenfalls fünfmal pro Woche Bankdrücken muss? Ein Blick ins Fernsehprogramm oder in eine der einschlägigen Frauenzeitschriften genügt; kaum ein Beitrag, der einem nicht suggeriert, dass man jetzt als Frau auch unbedingt ein Sixpack braucht, denn: „strong is the new pretty„. Sportmagazine sprießen wie Pilze aus dem Boden, jede noch so kleine Modemarke hat plötzlich eine eigene runner’s collection und die ach so wichtigen Eiweiß-Shakes gibt es nun speziell für Frauen. Keiner gibt sich mehr dem nächtlichen After-Party-Fresswahn hin, lieber schlürft man einen grünen Smoothie und geht früh ins Bett, weil man morgen ja noch zum Power-Pilates will. Wieso gibt es nur noch Extreme? Magermodel vs. XXXXL-Model // Veganer vs. Fast-Food-Junkie // Sportmuffel vs. Sport-Freak. Was ist aus dem guten alten Mittelmaß geworden? War das nicht mal der Weg zum Glück? Ab und zu ins Fitness gehen, aber eben auch mal nur auf der Couch liegen. Hin und wieder vier Cheeseburger verdrücken, dafür aber am nächsten Tag was Gesundes essen. Gerne mal zum Power-Pilates gehen, aber halt doch nicht ständig den geplanten Barabend dafür sausen lassen. Ist doch viel schöner, als nonstop so furchtbar vernünftig zu sein. Die wenigsten guten Geschichten beginnen mit den Worten „Als wir damals nach dem Training in dieser veganen Eatery waren…“

 

 

 

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