Selbstfindung Yoga

Ego my ass! Hört mit dieser Selbstfindung auf!

Das Ego – das Ich – das Selbst. Irgendwie scheint es uns abhanden gekommen zu sein. Haben wir es verloren? War es jemals da? Was passiert, wenn wir es gefunden haben?

Unserer neuen Generation entspringt ein alles umfassender und revolutionierender Sehnsuchtsgedanke – die volle Entfaltung des Selbst. Ob Selbstständigkeit, Selbstdarstellung, Selbstoptimierung oder Selbsterhöhung, scheißegal. Wir wollen, dass es gut wird! Wollen, das unser Leben bis in die Vollen ausgekostet wird und wir auf diesem Weg unsere wahre Bestimmung und Erfüllung finden können. Verwirklichung und Glück? Ja, bitte! Aber bei dieser Selbstfindung habe ich ehrlich gesagt so meine Selbstzweifel.

 

Je mehr man sucht, desto eher verliert man sich

 

Selbstfindung ist allgegenwärtig und vor allem eins: Absolut überbewertet! Googelst du „Selbstfindung“, könntest du dir wahrscheinlich erst mal eine Badewanne voll mit Yogi-Tee kochen und jahrelang darüber erhellen lassen, wie junge Menschen mit Reisen, Detox, Yoga und Ayahuasca auf dem Weg zu ihrem wahren Selbst getapst sind. So als ob sie davor eine leere Hülle waren, eine falsch einsortierte Akte im Stapel des Lebens. Bullshit. Selbstfindung ist ein gemachter Begriff, der uns mit kapitalistischer Kraft eine utopische Szenerie vorgaukelt, in welcher Inspiration und Glück wie laktosefreie Milch und veganer Honig fließen.

Wir sind alle irgendwo oder demnächst in den 20ern, leben im absoluten Luxus und haben mit keinerlei lebensbedrohlichem oder existenziellen Struggle zu tun. Frieden ist die Abwesenheit von Krieg. Dass wir diesen nicht haben, scheint kein Hindernis zu sein, Krieg gegen uns selbst zu führen. Wir sind nie genug. Immer weiter, immer schneller, noch ein Praktikum, noch eine Weltreise. Wir haben größtes Bemühen, all unsere Facetten zu trimmen, kompakt zu halten, so als ob es das eine wahre Selbst überhaupt gäbe. Als Mensch ist man zu keinem Zeitpunkt immer zentriert, konzentriert oder ausschließlich Herr seiner Selbst.

 

Detox Detox! Retox Retox!

 

Auch wenn ich zehn Tage im Schweigekloster war, mich nur mit meinem Wesen und meinen Eigenschaften auseinander gesetzt habe und jetzt wirklich weiß, was ich privat und beruflich im Leben will – eine Absage für meinen Traumjob bringt meinen verdammten sorgfältig geschichteten Zenhaltungs-Steinturm trotzdem zum Kippen. „Ich weiß, wer ich bin und dass es meine Bestimmung ist, in Kreuzberg in einer Fernseh-Agentur zu arbeiten. Aber warum kapiert das diese Agentur nicht?“ Bäm, da sind sie wieder, die Selbstzweifel. Jeder Spinat-Smoothie, jede Yogaübung wie verpufft. Wenn ich schon zu meinem Selbst finden könnte, dann hätte ich zumindest den Anspruch, dass mich nicht alles wieder aus der Bahn werfen kann. Dass ich Gelassenheit und Vertrauen dem Leben gegenüber haben kann. Aber halt – kann ich das nicht auch so haben? Ohne, dass ich mein Ich erst mal als verloren erkläre und es dann irgendwo reinpuzzeln kann?

 

Das Selbst ist nicht zwangsläufig im Ausland

 

Lasst euch was sagen: Auch unser ständiges Reisen dient nicht der ultimativen Selbstfindung! Eat, Pray, Love, ja ja. Nicht alles muss einen Findungscharakter haben. Reisen hilft uns in erster Linie beim Wachsen, wir lernen neue und vor allem andere Kulturen kennen – das erweitert den Horizont! Wir sammeln eher, als dass wir minimieren. Wir sprengen Verhaltensmuster und eigene Hürden… und das ist etwas ganz anderes als die verkrampfte Suche nach dem großen Ego. Ich kann im Urlaub schnorcheln gehen und im Kokosnuss-Bikini in der Hängematte liegen, ich kann Salzwassergeruch in der Nase haben und Ureinwohnern beim Stammestanz zuschauen – das ändert nicht meine Persönlichkeit. Vielleicht kann man auch einfach mal ’ne gute Zeit haben. Zur Ruhe kommen. Vielleicht kann man sich einfach mal freuen.

Zu sagen, ich habe jetzt mich selbst gefunden, wäre meinem alten Ich gegenüber auch ziemlich unfair. Ich will nicht alles hinter mir lassen und so tun, als wäre das davor nicht mein wahres Selbst gewesen. Natürlich gibt es mit dem wachsendem Alter auch mehr Situationen, in denen ich gelernt habe, authentisch sein zu müssen. Nur wenn wir ehrlich für das einstehen, was wir wollen, können wir glücklich werden.

Das  jetzige wahre „Ich“ kann in der Zukunft schon wieder etwas ganz anderes wollen

 

Zu sagen, ich habe mein wahres Ich entdeckt, nimmt mir außerdem den Raum für Veränderung. Wollte ich früher immer jung Mutter werden, will ich das heute vielleicht nicht mehr im Geringsten. Denke ich heute, ich will im hohen Alter mal in einer Alten-WG meinen letzten Frühling erleben, kann das auch in 50 Jahren komplett das Gegenteil davon sein, was ich dann ersehne. Mit neuen Menschen kommen neue Wünsche und neue Facetten in mir  – wir sind ja auch jetzt noch, auch wenn wir schon in Berlin ein Start-Up gegründet haben, in den meisten Situationen relativ formbar und ja, auch angepasst. Nicht immer sind wir die Gleichen, nicht immer „dem wahren Selbst“ treu. Mein Selbst setzt sich aus dem zusammen, was ich erlebe. Mit wem ich mich umgebe, wie mich Menschen behandeln und wie ich in Krisensituationen reagiere.

Und dieses Selbst wurde mir in die Wiege gelegt – und euch auch!

 

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Bildquelle: Lena Bell via Unsplash unter cc0