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Liebe: Vom Druck, das „Wir“ definieren zu müssen

Ich hänge im Bett und tippe meiner Freundin Carla eine Nachricht. Kurze Zeit später leuchtet mein Bildschirm auf: „Bin noch unterwegs, gerade auf dem Heimweg, war bei Paul“. Ich kann es mir bildlich vorstellen: Carla schlingt ihre Jacke enger um sich, steckt auch ihren linken Kopfhörer in ihre Ohrmuschel und biegt die nächste Links ein. Zum ersten Mal fällt ihr auf, dass nur eine Straßenseite beleuchtet ist. Sie ignoriert ihre offenen Schnürsenkel und läuft zügig in Richtung Karl-Marx-Straße. Es ist kurz vor Zwölf, keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Genug Zeit und Ruhe zum Nachdenken. Den Tag Revue passieren lassen. Mumford and Sons trällern ihr ins Ohr, dass man alles sein kann, was niemand wissen soll. Tja, weise Worte. Und passend. Sie muss an Paul denken. Vielleicht weil sie dauernd in Bedrängnis gerät, Definitionen dafür aufstellen zu müssen, was sie ihm gegenüber fühlt. Ständig wird sie danach gefragt, ob er nicht „mehr“ ist?

Mehr… wer entscheidet, was dieses mehr ist? Definition ist doch nicht alles. Vielleicht kann man etwas gar nicht immer definieren. Und vielleicht ist das ja „out of the system“, aber trotzdem in Ordnung. Das Handy meiner Freundin vibriert und sie linst auf eine weitere neue Whatsapp Nachricht. Paul? Die Musik läuft weiter – nach dem „You can be every little thing you want nobody to know, and you can try to drown out the street below‟ folgt dann schließlich das „and you can call it love if you want‟.

 

Eindeutige Definition: Er ist alles, bloß nicht nichts für sie

 

„Bist du schon in der Bahn?“, liest sie, antwortet und lächelt. Ich weiß, wie glücklich sie gerade ist. Und das, weil sie sich eben eigentlich nicht wie sonst Hunderttausend Gedanken machen muss. Vielleicht weil es sich mit Paul einfach nicht so anfühlt. Und ich weiß, dass es ihm ähnlich geht. Dass er sie wahrscheinlich zu überreden versuchte, sie noch zur Bahn zu bringen, Carla stur abgelehnt hat, er jetzt wartet, bis sie die Tür ihrer kleinen Bude hinter sich zuwirft und ihm schreibt, dass sie zuhause ist. Ganz einfach. Warum müssen andere das alles kompliziert machen? Ist es doch gar nicht oder? Erst heute Mittag war es tatsächlich schon wieder Thema gewesen: Zwischen den Vorlesungen schnappten wir uns die ersten Sonnenstrahlen und standen gemeinsam nahe der Bibliothek zusammen. Auch Carla und Paul waren Teil der Runde. Ich beobachtete von ein paar Metern entfernt, wie sie ihre Fritz-Cola hielt und Paul den Arm über ihre Schultern legte. Nach einem kurzen Lächeln verschwand er wieder und meine Freundin stand mit einer unserer Kommilitoninnen alleine. Ich verstand nur Wortfetzen, aber auch wir hatten erst vor kurzem darüber gesprochen. „Seid ihr zusammen?‟, fragte die Kommilitonin, „Nö‟, sagte Carla. „Also seid ihr nur Kumpel?‟. „Nee‟. „Ja, was seid ihr denn?‟. Sie zuckte die Schultern, schaute zu mir rüber und antwortete nach wenigen Sekunden einfach: „Wir‟. Ich wusste, was sie meinte. Sie erinnerte mich an unser Gespräch.

 

Mehr als genug

 

„Mehr als genug“ hatte sie zu mir gesagt. Ich kann verstehen, dass sie ein bisschen genervt davon ist, dass viele immer alles so tutti completti definiert haben wollen. Das ist wohl der Inbegriff der Gesellschaft: die Allgemeingültigkeit, hatte sie mir gegenüber mit den Augen gerollt. Und dann hinzugefügt, wie Paradox es doch sei, Individuelles zu verallgemeinern. Vor allem, wenn man einfach keinen Plan davon hat, wie man das beschreibt, geschweige denn davon, wie es weiter geht. „Gefühlt versucht jeder immer seine Story aus deiner zu machen und hat genaue Vorstellungen davon, wie es denn sein müsste und wie es denn sein muss, wenn… Dann wird spekuliert, interpretiert, abstrahiert.“. Er ist viel für sie – schlag ihr irgendeine Definition vor und ich kann dir sagen, dass sicherlich alles irgendwie zutrifft. Blaues Auge hin oder her, dann haltet sie halt für gutgläubig. Sie strebt keine Profiboxer Karriere an, sondern vertraut einfach auf ihren Herzschlag. Wenn sich das jetzt gut anfühlt, ist es doch egal, wie es in der Zukunft ist – oder?

 

Und wenn sie (ihn) verliert

 

Während sie allein durch die Straße auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle läuft, denkt sich sicherlich nun doch sehr ausgiebig nochmal darüber nach. „Es fühlt sich einfach immer gut mit Paul an‟, hatte sie gesagt. „Ich weiß nicht ja auch nicht was es ist, aber ich will, dass es ist. Irgendwie.‟ Klar, ist das jetzt keine Definition, die jeder versteht, aber Irgendwie trifft`s. Ihre Story kenne ich mittlerweile fast so gut, als wäre es mir selbst passiert. Mit der Nähe kommt die Angst. As always. Auch ich bin nicht gut darin zuzulassen. Noch schlechter bin ich übrigens im Loslassen. Noch kann sie Paul ansehen und anpacken, wenn ihr danach ist. Aber möglicherweise ist das irgendwann nicht mehr so, weil es nicht bleibt. Möglicherweise ist sie dann irgendwo und er irgendwo anders. Und beim Gedanken daran, ist es ihr nicht mehr so egal, was kommt. Denn auch wenn wir zwei Menschen sind, die immer Reden darüber schwingen, dass das jetzt zählt. Und dass jede Zeit es wert ist, man nur gewinnt und dann ja gar nicht unglücklich sein kann – ist sie es jetzt doch ein bisschen. Doch wie soll man etwas definieren, das man nicht erklären kann?

 

And you can call it love if you want

 

Ich kenne (leider) Beziehungen, wo sich Partner ständig in die Ohren säuseln, wie sehr sie sich lieben, doch wenn man sie zusammen sieht, wird mir schlecht davon, dass das die Definition von Liebe sein soll. Ist Liebe nicht viel mehr als die Definition dessen in drei Worte gepackt? Es geht darum, ob sie sich in den Armen des anderen zu Hause fühlt. Ob sie mitten in der Nacht auf Hausdächern sitzen, reden und schweigen und reden und wieder schweigen. Sie sich das letzte Stück Schokolade teilen. Sie zu den gleichen Liedern tanzen, egal wie bescheuert es aussieht. Sie lächeln müssen, wenn sie in dessen Augen schauen. Den Menschen als den Menschen schätzt. Als den Menschen liebt. So wie es Carla eben mit Paul geht. Und das, obwohl sie nicht im klassischen Sinne „in einer Beziehung‟ sind. Dass er ihr viel bedeutet, ist offensichtlich. Und vielleicht ist das zwischen ihnen Liebe, auch wenn man es nicht ausspricht. Vielleicht auch nicht. Zumindest fühlt es sich echt an.